La Despedida (Der Abschied)

Mapa Teatro

(c) RolfAbderhalden
(c) Rolf Abderhalden
(c) CamilleBarnaud
(c) Camille Barnaud

La Despedida (Der Abschied)

Mapa Teatro

Tief im kolumbianischen Dschungel hat die FARC-Guerilla nach ihrer Entwaffnung das Lager „El Borugo“ zurückgelassen. Von der Regierung wurde es zu einem „Freilichtmuseum der Erinnerung“ an den Bürgerkrieg umgewandelt: Soldaten stellen hier Entführungen und Gewalttaten der Guerilleros in einem Laienspiel für Touristen nach, um das Gedächtnis der Verbrechen zu verewigen – dadurch aber zugleich die Utopie, die einst der Erhebung der Rebellen zugrunde lag, für immer aus dem Gedächtnis zu streichen. Das Mapa Teatro, eine der wichtigsten Theatergruppen Südamerikas, widmet sich diesem „Krieg der Erinnerung“ um die Deutungshoheit über die Geschichte. „La Despedida“ ist großes Film-, Zeichen- und Bildertheater, ein dokumentar-theatrales Reenactment des realen Reenactments durch das Militär, das in suggestive Abschieds-Tableaus der revolutionären Bewegungen Lateinamerikas mündet.

Infos

Dauer: 75 Min.
Sprache: Spanisch mit deutschen Übertiteln
Mousonturm-Koproduktion
Am 29.11. Gespräch mit den Künstlern, Suely Rolnik und Matthias Pees im Anschluss
Konzept und Regie: Heidi und Rolf Abderhalden
Mit: Heidi Abderhalden, Rolf Abderhalden, Agnes Brekke, Julián Díaz, Andrés Castañeda, Miguel Alfonso Molina, Santiago Sepúlveda

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„Bei uns hat die Revolution nie stattgefunden“

Das Mapa Teatro erprobt seit über 30 Jahren künstlerische Grenzüberschreitungen im turbulenten Zentrum der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá und zeigt Stücke, die zugleich poetisch und politisch, dokumentarisch und phantastisch sind. Nun kommt die weltberühmte Truppe mit ihrer jüngsten Produktion „La Despedida“ (Der Abschied) erstmals nach Frankfurt. Mousonturm-Intendant Matthias Pees hat sie schon oft in Bogotá besucht – und auch mitgearbeitet am neuen Stück.

Von Matthias Pees

Früher war das hier mal eine Herberge. Und eine Art Markt: in den Innenhöfen. Über mehrere Stockwerke drum herum lagen die Unterkünfte. Denn wer hier was verkaufen wollte, reiste zumeist von auswärts an, aus der fruchtbaren, „Sabana de Bogotá“ genannten Hochebene etwa oder den viel tiefer gelegenen Flussbecken von Amazonas und Orinoco, und konnte sich gleich einquartieren in diesem großstädtischen Kleinbauernbasar. Die Zimmer, das sieht man noch heute, waren einfach, aber ausreichend. Klimaanlagen braucht es auch nicht in Bogotá: denn die Stadt liegt zwar am Äquator, aber auch in 2600 Meter Höhe, weshalb es das ganze Jahr kaum wärmer wird als 20 Grad.

An dieser belebten und dem westeuropäischen Kulturtouristen auch gleich ein wenig Furcht einflößenden Straßenecke der „Carrera Septima“ – jener wichtigsten, die kolumbianische Hauptstadt von Nord nach Süd durch-querenden Verkehrsader – ist jetzt das Mapa Teatro zu Hause. „Laboratorio de artistas“, Künstlerlabor, heißt das alte Gemäuer heute kurz und bündig, und auf den Treppen, in den Markthöfen und Fremdenzimmern von einst lebt und wirkt und wuselt die Kunst: in Form von Theater, Ausstellungen, Installationen, Konzerten, Vorlesungen, Workshops und Debatten. An der Stirnseite des vorderen Hofes fehlt die Wand, der so geöffnete Raum dahinter ist ein Zuschauerraum, aus dem heraus das Publikum tief in die schlauchartige Hofflucht schaut, in die sich Bühnenräume und -bilder in mehreren Schichten staffeln lassen, so dass der Blick von einem Raum durch den nächsten durch den übernächsten bis in den hintersten fallen kann. Theater im Tunnel-Blick. Aber das Licht kommt von oben.

Zu Beginn der 1980er Jahre haben Heidi, Elizabeth und Rolf Abderhalden, drei kolumbianische Geschwister mit Schweizer Vorfahren, in Paris das Mapa Teatro gegründet und nach kurzer Zeit hierher übersiedelt, ins Herz ihrer Heimatstadt Bogotá. Seitdem hat es sich zu einem multimedialen, interdisziplinären und vielstimmigen Projekt entwickelt, verwurzelt in der lateinamerikanischen Theaterszene ebenso wie in der kolumbianischen Kunsthochschullandschaft und in internationalen Künstler und Aktivistennetzwerken. Es ist ein Künstlerinnen- und Künstlerkollektiv ebenso wie ein Zentrum zivilgesellschaftlichen Engagements in einem Land, das fast ein Jahrhundert lang von Bürgerkriegen und Gewalt, postkolonialen Erblasten und politischer Korruption erschüttert wurde wie kaum ein anderes in Südamerika. Ein Ort des ästhetischen Widerstands, der Selbstbehauptung und Selbstbestimmung, der kritischen Reflektion und politischen Emanzipation. Kurz: ein Ort der Kunst.

Anfangs waren die Arbeiten des Mapa Teatro geprägt vom intensiven Bildertheater, das die alltägliche Gewalttätigkeit im Land aufgriff und in verstörende, überwältigende Zeichen, Tableaux und Spielsituationen übersetzte. Sie spielten Richard III. in einem Meer aus Totenschädeln. Dann lud sie 2001 Antanas Mockus, damals der grüne Bürgermeister Bogotás, dazu ein, die von der Vorgängerregierung unwiderrufbar verfügte Zerstörung von El Cartucho, eines prekären Stadtviertels im Zentrum Bogotás, mit theatralen Mitteln zu begleiten und zu dokumentieren. Nach einem schmerzhaften, mehrjährigen Prozess der Annäherung an die zu vertreibenden Bewohner und des gemeinsamen Abschiedsnehmens entstand das erste Dokumentartheaterstück der Gruppe, „Testigos de las ruinas“, Zeugen der Ruinen, das 2005 bei den Wiener Festwochen herauskam. Es folgten weitere dokumentarische Arbeiten zur kolumbianischen Wirklichkeit, eine Serie zur „Anatomie der Gewalt“ im Land, die sich unter anderem mit der afrokolumbianischen Diaspora am Pazifik („Los santos inocentes“, 2010), dem Erbe Escobars und der Drogenkartelle („Discurso de un hombre decente“, 2011 / 12) und der Unterdrückung der Arbeiterbewegung („Los incontados: un tríptico“, 2014) auseinandersetzen.

All diese Produktionen des Mapa Teatro haben dokufiktionalen Charakter, verbinden faktenbasierte Nüchternheit mit der phantastischen und überhöhenden Ästhetik eines Bilder-, Video- und Klangraumtheaters, das sinnbildhaft und betörend versucht, über die Umwege von Reiseberichten, Festen, Filmen, Karnevalisierungen und Re-Enactments volkstümlicher Rituale und Manifestationen komplexe und widersprüchliche Zusammenhänge aufzugreifen und widerzuspiegeln, zu verhandeln und zu verwandeln. Auf diese Weise haben Heidi und Rolf Abderhalden, die inszenatorischen und philosophischen Triebkräfte der Gruppe, eine Art Poetologie für ein Dokumentartheater neuen Typs entwickelt. Oder dieses ästhetisch zumindest entscheidend erweitert.

Im vergangenen Jahr entstand, als Koproduktion mit dem Mousonturm, das jüngste Werk in dieser Reihe: „La Despedida“ (Der Abschied) nimmt Bezug auf den heiß umkämpften Friedensvertrag der kolumbianischen Regierung mit der FARC-Guerilla, welche sich in Folge entwaffnet hat. „El Borugo“ hieß ein tief im kolumbianischen Regenwald verstecktes Lager der FARC, in dem auch Gefangene festgehalten wurden, und das nun vom Militär in eine Art Gedenk-Park verwandelt wird, in der Soldaten als Laiendarsteller für Touristen und Journalisten in die Rollen der Guerilleros und ihrer Geiseln schlüpfen und harten Lageralltag vorspielen. Natürlich erzählt das Militär seine Version der Geschichte und tilgt jedwede andere mögliche: von der ursprünglich antikapitalistischen, antikolonialen Motivation des bewaffneten Kampfes in den Wäldern auf der Seite der Land- und Rechtlosen bleibt selbstverständlich keine Spur.

„Dieser langersehnte Frieden, nach einem halben Jahrhundert des Bürgerkrieges, bedeutet natürlich auch das Ende einer Utopie“, erläutert Heidi Abderhalden den Ansatz für das Stück. „Es ist der Abschied von einem Projekt der Revolution, das in Kolumbien nie seinen Platz gefunden hat, einfach nicht stattfand.“ Denn schon bald nach ihrer Gründung hatten die „Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del pueblo“ (FARC-EP) sich und ihre Sache gründlich diskreditiert – etwa durch Massaker in nicht kollaborierenden Dörfern und ihre Verstrickung in den Drogenhandel, durch den sie sich maßgeblich finanzierten. Um zur Filmrecherche nach „El Borugo“ reisen zu können, bot das Mapa Teatro dem Militär im Austausch ein Schauspieltraining für die soldatischen Guerilla- Darsteller an: „La Despedida“ beginnt mit der Dokumentation dieser vermeintlichen Selbstpreisgabe, für die sich das Ensemble vor einer Brechtgardine aufreiht und brav Bericht erstattet.

Dann jedoch öffnet sich der Vorhang, und wir blicken tief in das Lager hinein, das die Gruppe auf vielfältige Weise auf die Bühne geholt zu haben scheint. Statt Soldaten und Guerilleros hausen hier nun die überlebensgroßen Gespenster der Revolution, von Marx bis Mao, Lenin bis Bolívar, von Che Guevara bis Fidel Castro. In diesem „tropical underground“ scheinen sie unerlöst fortgelebt zu haben wie in einer kommunistischen Zeitkapsel, zermürbt von feuchter Hitze und dicker Tarnkleidung, vom Warten und Backgammonspielen, im Zwiegespräch nur noch mit einem Pfeife rauchenden Schamanen, der das von Guerilla wie Armee gleichermaßen unberechtigt besetzte Lagerterritorium als heiliges Land seines Stammes zurückfordert. Und damit dem ideologischen Antagonismus eine dritte, indigene Geschichte entgegensetzt.