Invisible Republic: #stilllovingtherevolution

andcompany&Co.

(c) Dorothea Tuch
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Invisible Republic: #stilllovingtherevolution

andcompany&Co.

Wir haben sie so geliebt, die Revolution! Doch sie hat die Kinder von Karl Marx & Coca Cola entlassen und sich einer neuen Generation zugewandt: „Während 1917 auf den Staat fokussierte, zielte 1968 auf das Individuum. In Zukunft müsste es darum gehen, die Beziehungsweisen zwischen den Menschen in den Blick zu nehmen“, so die Autorin Bini Adamczak. Im Jahr der Jubiläen – 50 Jahre '68, 100 Jahre Novemberrevolution, 200. Geburtstag von Karl Marx – machen sich vier Frauen auf die Suche nach einer neuen Liebe kreuz und quer durch einen komischen, alten Kontinent. Zwischen Pariser Mai und Prager Frühling zeigt sich: Die Revolution kennt keine Jahreszeiten und hält sich an kein Drehbuch. Sie stirbt nicht an Bleivergiftung, Kinderkrankheiten oder Altersschwäche. Sondern an der Melancholie ihrer Anhängerinnen und Anhänger. Gegen postrevolutionäre Depression (PRD) hilft vielleicht nur die Performance radikaler Demokratie: eine reale Versammlung.

 

Infos

Sprache: Englisch und Deutsch mit englischen Übertiteln
Dauer: 90 Min.
Mousonturm-Koproduktion
Konzept, Regie: andcompany&Co. (Alexander Karschnia, Nicola Nord, Sascha Sulimma)
Von und mit: Nina Kronjäger, Mariana Senne, Claudia Splitt, Mira Partecke&Co.
Text: Alexander Karschnia mit Nicola Nord&Co.
Musik: Sascha Sulimma&Co.
Bühne und Kostüm: Janina Audick
Video: Kathrin Krottenthaler
Demotionalien: Raul Walch
Lichtdesign: Rainer Casper
Hauptmitarbeit Bühne und Kostüm: Daniela Zorrozua
Mitarbeit Bühne und Kostüm: Franziska Sauer, Caroline Wächter
Maske: Carolina Lazo
Praktikum: Hanne Jannesh
Technische Leitung: Holger Müller
Ton: Deniz Sungur
Licht: Sebastian Zamponi
Bühnenbau: Lichtblick Bühnentechnik
Dramaturgie- und Produktionsassistenz Ffm: Christian Schuller
Regieassistenz: Kasia Noga
Übersetzung: Anna Galt
Übertitel: Charlotte Borny
Company Management: Monica Ferrari

Eine Produktion von andcompany&Co. in Koproduktion mit HAU Hebbel am Ufer Berlin, Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main, FFT Düsseldorf, ACT Festival Sofia, ARCHA Theater Prag und brut Wien, mit der Unterstützung von Theater Company MOMO Sofia. Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes und die Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Das Projekt wurde im Rahmen von Szenenwechsel, einem Programm der Robert Bosch Stiftung und des Internationalen Theaterinstituts gefördert. Die Aufführung am Künstlerhaus Mousonturm ist gefördert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst. Unterstützt durch das Nationale Performance Netz Gastspielförderung Theater, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, sowie den Kultur- und Kunstministerien der Länder.

 

 

 

Mehr Informationen

„Wir haben sie so geliebt, die Revolution!“ Doch sie hat die Kinder von Karl Marx & Coca Cola entlassen und sich einer neuen Generation zugewandt: „Während 1917 auf den Staat fokussierte, zielte 1968 auf das Individuum. In Zukunft müsste es darum gehen, die Beziehungsweisen zwischen den Menschen in den Blick zu nehmen“, so Bini Adamczak in ihrem Buch „Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende“. Im Jahr der Jubiläen – 50 Jahre '68, 100 Jahre Novemberrevolution, 200. Geburtstag von Karl Marx – machen sich vier Frauen (Nina Kronjäger, Mira Partecke, Mariana Senne und Claudia Splitt) auf die Suche nach einer neuen Liebe kreuz & quer durch einen komischen, alten Kontinent. Zwischen Pariser Mai und Prager Frühling zeigt sich: Die Revolution kennt keine Jahreszeiten und hält sich an kein Drehbuch. Sie stirbt nicht an Bleivergiftung, Kinderkrankheiten oder Altersschwäche. Sondern an der Melancholie ihrer Anhänger*innen. Gegen postrevolutionäre Depression (PRD) hilft vielleicht nur die Performance radikaler Demokratie: eine reale Versammlung.

 

1968: Vor 50 Jahre rebellierten fast überall in der Welt junge Menschen, vor allem Studierende, aber auch junge Arbeiter*innen, Lehrlinge und Schüler*innen. Der berüchtigte Pariser Mai führte fast zu einer revolutionären Situation, als Millionen Arbeiter*innen streikten und ihre Betriebe besetzten. Einer der führenden Köpfe dieser Ereignisse war der 23jährige Dany „le rouge“ Cohn-Bendit. Als man ihn kurz danach fragte, was er als nächstes vorhabe, antwortete er: „Einen Western drehen mit Jean-Luc Godard.“ Godard wusste davon nichts, aber als man ihn darauf ansprach, antwortete er nur: „Western? No. Cohn-Bendit? Oui.“ Im Sommer 1968 arbeiteten sie zusammen an dem Film „Le Vent d‘Est“. Cohn-Bendits Beitrag beschränkte sich allerdings darauf, vormittags Vollversammlungen einzuberufen, auf denen darüber diskutiert wurde, was sie am Nachmittag drehen wollten. Cohn-Bendit verließ das Film-Set, bevor der Film zu Ende gedreht war und siedelte nach Frankfurt am Main um, wo er bis heute politisch aktiv ist. Er ist Mitbegründer der Partei Die GRÜNEN und saß im Europaparlament. andcompany&Co. (Nicola Nord, Alexander Karschnia und Sascha Sulimma), die in Frankfurt a. Main aufgewachsen sind, haben sich die Geschichte dieser gescheiterten Zusammenarbeit als Inspiration genommen, um ein radikal gegenwärtiges Stück zu machen über die Suche nach der Revolution: „Wir haben sie so geliebt, die Revolution“ Dieser Satz von Daniel Cohn-Bendit läutet den Abschied des einstigen Revolutionärs von seiner Jugendliebe ein. Doch „linke Melancholie“ ist und bleibt eine Spezialität vor allem von middle-aged white males. Für Frauen sieht die Sache ganz anders aus. Für sie hat 1968 nicht etwas aufgehört, sondern etwas Neues angefangen: Im September 1968 warf eine Delegierte einem Studentenführer eine Tomate an den Kopf, weil er sich geweigert hatte, auf die Rede seiner Vorrednerin einzugehen. Diese hatte gefordert, die Kindererziehung nicht länger nur den Frauen zu überlassen: „Das Private ist politisch!“ Dieser Satz der zweiten Frauenbewegung wird bis heute heiß diskutiert und hat auch viele freie Gruppen wie andcompany&Co. in ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigt. Heute haben wir es längst mit einer dritten Frauenbewegung zu tun, die die soziale Konstruktion von Geschlecht in Frage stellt. Eine der interessantesten Theoretikerinnen ist Bini Adamczak, die schon vor Jahren mit andcompany&Co., auf der Bühne stand. Im letzten Jahr ist ihr Buch: „Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende“ erschienen. Die gemeinsame Lektüre dieses Buches hat die Arbeit an dem Stück begleitet. Vor allem das Konzept der „postrevolutionären Depression“ wurde ausgiebig diskutiert. Sind wir Nachgeborenen alle dazu verurteilt, unter postrevolutionärer Depression zu leiden, weil wir 1968 noch nicht geboren waren, aber 1968 die Geschichte zu Ende ging? Oder hat die wahre Geschichte noch gar nicht begonnen, sondern liegt noch vor uns?

 

andcompany&Co. glauben, dass die Gegenwart ein beständiger Streit zwischen Vergangenheit und Zukunft ist und haben sich deswegen zur Aufgabe gemacht, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten und mit ihrer Re-Mix-Technik neu zusammen zu setzen. Dafür sind sie im Mai diesen Jahres nach Frankfurt a. Main und an die deutsch-französische Grenze gefahren, haben eine Demonstration organisiert und die Johann Wolfgang Goethe Universität in „Karl Marx Universität“ umbenannt wie 1968 die streikenden Studierenden, bzw. in „K RL M RX Universität“: das „A“ haben sie durchgestrichen wie die junge Ost-Berliner Autorin Luise Meier in ihrem aktuellen Buch „MRX-Maschine“. Es geht nicht um Marx als Autorität oder Vater-Figur, sondern darum, einen Virus freizusetzen. Im Sommer sind sie auch nach Sofia gefahren, wo im Juli 1968 die Weltfestspiele der Jugend und Studenten stattfanden. Es wurde ein turbulentes Ereignis, v.a. durch die rebellischen Studierenden aus West-Deutschland, die ihre Protestformen mitbrachten und darauf bestanden, ihr Ding durchzuziehen, eine eigenständige Demonstration gegen den Vietnamkrieg. Einer Handvoll Leute gelang es, die Stimmung des ganzen Festivals zu verändern. Legendär sind die Auftritte von KD Wolff, der seine Reden mit den Worten begann: „Liebe Genossinnen und Genossen, lieber Geheimdienst!“ Als man sie nicht vor die US-Botschaft ziehen ließ, um dort zu protestieren, sprang er auf die Mauern des Dimitrov-Museums und agitierte von dort. Das Treiben der undogmatischen West-Linken mischte das Festival gehörig auf, in dem es sowieso gärte. Die ganze Zeit versuchte die offizielle Leitung die tschechoslowakische Delegation zu isolieren. KD Wolff erinnert sich daran, dass die Tschechoslowaken ihn unterstützten, frei zu reden. Sie wollten sich dennoch nicht den westdeutschen Revoluzzern anschließen. Zwei Wochen nach Ende des Festivals marschierten die Warschauer Pakt Staaten in der Tschechoslowakei ein und beendeten den Prager Frühling. Gegen diesen Einmarsch kam es auch in der Sowjetunion Proteste: Sieben Dissidenten demonstrierten auf dem Roten Platz, unter ihnen Natalya Gorbanevskaya, die ihr Baby in einem Kinderwagen mitgebracht hatte. Sie hielt ein Schild in die Höhe mit dem Schriftzug: „Für Eure und unsere Freiheit!“ (Sie hat ihre eigne Aktion 2008 und 2015 reenactet – und wurde wieder verhaftet.) Ähnliche Aktionen gab es auch in der DDR: Der Name Dubček wurde zum Symbol des Widerstands der jungen Generation. Die Liedermacherin Brigitte Martin schneiderte sich ein Kleid aus tschechoslowakischen Fahnen und ging damit in Ost-Berlin spazieren. andcompany&Co. hat solche Stilmittel aufgegriffen, u.a. die Praxis der Vollversammlung. Sind doch seit 2011/12 auch öffentliche Versammlungen, asambleas wieder ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Protestformen wie Sit-Ins waren natürlich von der zeitgenössischen Performance-Kunst beeinflusst und beeinflussten wiederum die Kunst. andcompany&Co. stellt sich in eine solche Tradition, indem sie diese Formen immer wieder ins Theater holt, aber sie auch zurück auf die Straße trägt. Wenn es etwas gibt, was die Freie Szene mit 1968 verbindet, dann ist es jener antiautoritäre Geist, der sich von niemanden vorschreiben lässt, was er zu tun oder zu lassen hat und die ihr eigenes Ding durchziehen – vor, hinter und auf der Bühne.

 

von Alexander Karschnia