Bacantes – Prelúdio para uma purga

Marlene Monteiro Freitas

(c) Laurent Philippe
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Bacantes – Prelúdio para uma purga

Marlene Monteiro Freitas

Mit ihren expressiven, vitalen Stücken erobert Marlene Monteiro Freitas das Publikum im Sturm – in Frankfurt zuletzt mit „Of Ivory and Flesh“. Für ihr neues Stück versammelt sie acht Tänzerinnen und Tänzer sowie fünf Trompeter zu einem irren Update von Euripides’ Tragödie „Die Bakchen“. Aus dessen Motiv des Kampfes zwischen Ordnung und Vernunft auf der einen Seite und Irrationalität und Rausch auf der anderen entwickelt Freitas einen opulenten Bilderreigen, der vom Karneval in ihrer Heimat Kap Verde genauso inspiriert ist wie von mythologischen Motiven, Hoch- und Popkultur. In einer Parade vielschichtiger Figuren steigern sich groteske Überhöhungen von Alltagszenen zu verstörenden musikalischen Ekstasen. „Bacantes“ entwickelt dabei eine emotional-kathartische Dichte, die uns abwechselnd in ausgelassene Lachanfälle und nachdenkliche Stille versetzt.

 

Infos

Dauer: 135 Min.
Choreografie: Marlene Monteiro Freitas
Mit: Andreas Merk, Betty Tchomanga, Cookie, Cláudio Silva, Flora Détraz, Gonçalo Marques, Guillaume Gardey de Soos, Johannes Krieger, Lander Patrick, Marlene Monteiro Freitas, Miguel Filipe, Tomás Moital, Yaw Tembe
Licht und Raum: Yannick Fouassier
Sound: Tiago Cerqueira
Hocker: João Francisco Figueira, Luís Miguel Figueira
Research: Marlene Monteiro Freitas, João Francisco Figueira
Produktion: P.OR.K (Lisbon, PT) – Bruna Antonelli, Sandra Azevedo
Vertrieb: Key Performance (Stockholm, SE)

Produktion: P.OR.K (Lisbon, PT) – Bruna Antonelli, Sandra Azevedo; Koproduktion|TNDMII (Lisbon, PT); Kunstenfestivaldesarts (Brussels, BE), steirischer herbst festival (Graz, AT) & Alkantara (Lisbon, PT) with the support of the NXTSTP- Culture Programme of the European Union; NorrlandsOperan (Umeå, SE); Festival Montpellier Danse 2017 (Montpellier, FR); Bonlieu Scène nationale Annecy (Annecy, FR) & La Bâtie-Festival de Genève (Geneva, CH) in the framework of FEDER - programme Interreg France-Suisse 2014-2020; Teatro Municipal do Porto (Porto, PT); Le Cuvier – Centre de Développement Chorégraphique (Nouvelle-Aquitaine, FR); HAU Hebbel am Ufer (Berlin, DE);  International Summer Festival Kampnagel (Hamburg, DE); Athens and Epidaurus Festival (Athens, GR); Münchner Kammerspiele (Munich, DE), Kurtheater Baden (Baden, CH); SPRING Performing Arts Festival (Utrecht, NL); Zürcher Theater Spektakel (Zurich, CH); Nouveau Théâtre de Montreuil – centre dramatique national (Montreuil, FR); Les Spectacles Vivants / Centre Pompidou (Paris, FR)

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Karneval der Monstren und Trompeten

Mit „Bacantes – Prelúdio para uma purga“ fordert die kapverdische Choreografin Marlene Monteiro Freitas den griechischen Dramatiker Euripides zu einem grenzüberschreitenden Tanz heraus. Eine brillant ausufernde Choreografie.

VON HELMUT PLOEBST

Die Einsicht, dass unser Menschsein mit mehr oder weniger starken Dosen Wahnsinn verbunden ist, gibt der kapverdischen Choreografin Marlene Monteiro Freitas Stoff für immer neue, fabelhafte Stücke. Wie bereits in früheren Arbeiten – etwa in „Guintche“ (2010), „Of Ivory and Flesh“ (2014) oder „Jaguar“ (2015, in Kooperation mit Andreas Merk) – zu sehen war, bricht die heute 39-Jährige meisterhaft das Absurde, die Groteske und den Witz aus den historischen Tragödien unbewältigter Selbsterkenntnis.

Diesmal platzt sie mitten hinein in die Frühzeit der Tragödie und fordert den griechischen Dramatiker Euripides heraus – zu einem grenzüberschreitenden Tanz. Bei „Bacantes – Prelúdio para uma purga“ (2017) meldet sich Euripides’ Tragödie „Die Bakchen“ in Anspielungen und Zitaten. Aus der ursprünglichen Handlung hat Freitas ein karnevaleskes Treiben gemacht. Der blinde Seher Teiresias tritt da als Frau und als Mann auf, wie es den unterschiedlichen  Legenden um seine Blendung  entspricht. Und Thebens Herrscher Pentheus ist ein lockenumkränztes Hinterteil, das ein Lied ins Publikum trötet. Bei Euripides verspottet Dionysos den in Frauenkleidern vor ihm Stehenden: „Nur löste sich aus ihrem Sitz die Locke dir …“ Aus dem Hintergrund sickert der Song „Unchained Melody“ in der Version der Righteous Brothers von 1965, zerschrammt von Störgeräuschen, aufgesprengt durch eine Büchse, die knallt: „ … Are you still mine? I need your love …“ Das erinnert an die niederschmetternde Live-Konzertaufnahme des Hits von einem schweißtriefenden, wie ein trunkener Dionysos aufgedunsenen Elvis Presley aus dessen Todesjahr 1977.

Alle dreizehn Tänzerinnen und Tänzer, Musiker und Mänaden werden bei Freitas zu Teilen eines detailreichen Spiels über die Allüren, Listen und Lüste des hellenischen Wein-Weib-Gesang- und Theatergottes. In diesem Spiel haben sich die bacchantischen Thyrsosstäbe in Notenständer verwandelt, die auch als Gewehre eingesetzt werden. Ein  ausuferndes Trompeter- Quintett führt durch das Stück, Pfeifen trillern und Sirenen heulen wie aus George Antheils Musik in Fernand Légers Film „Ballet mécanique“ (1924). Louis Armstrong und Anita Berber mischen mit. Als Filmeinspielung ist zwischendurch eine nicht assistierte Geburt zu sehen. Freitas’ Bacchantinnen tanzen im Sitzen auf Hockern, geraten in Ekstasen, verwandeln sich in Marionetten und Monstren, deren blutige Schnauzen jenen von Sternnasenmaulwürfen ähneln, während Maurice Ravels „Bolero“ seinem Höhepunkt zutreibt.

Noch bevor „Unchained Melody“ den Auftritt zweier Männer mit durch Masken grotesk vergrößerten Mündern untermalt und zum abschließenden „Bolero“ überleitet, zitiert Freitas’ Teiresias den tieftraurigen, von der Puccini-Arie „Con onor muore“ begleiteten Monolog des sich zur Butterfly schminkenden René Gallimard in David Cronenbergs Film „M. Butterfly“ (1993): „Liebe verzerrte mein Urteilsvermögen, blendete meine Augen. Und jetzt, wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich nichts, außer …“.

In diesem „nichts, außer …“ spiegelt sich die Tragödie des unter dem Einfluss des rachsüchtigen Dionysos als Frau verkleideten Pentheus bei Euripides. Freitas hat „Die Bakchen“ zerrissen wie darin die von dem Gott benebelten Mänaden den Pentheus, dessen Mutter Agaue den Kopf ihres zerfleischten Sohnes für einen Tierkopf hält und als Trophäe nach Hause trägt. Doch anders als Euripides schließt sie den Akt des „Augenöffnens“ und Erkennens aus. Ihr Stück endet seinem Untertitel gemäß tatsächlich als „Vorspiel für eine Reinigung“.