The Invention of Evilness (A Invenção da Maldade)

Marcelo Evelin / Demolition Incorporada

(c) Maurício Pokemon
(c) Maurício Pokemon
(c) Maurício Pokemon

The Invention of Evilness (A Invenção da Maldade)

Marcelo Evelin / Demolition Incorporada

Voller Wucht treffen Arme, Beine, Rücken und unzählige Äste aufeinander und produzieren einen hämmernden Beat. Karnevalartige Parade oder Überlebenskampf? Wie kein anderer Choreograf seiner Generation versteht es Marcelo Evelin, die politischen und sozialen Spannungen unserer Zeit und ihre Resonanzen im Körper in Bewegung zu setzen. Mit seinem neuen Stück „The Invention of Evilness (A Invenção da Maldade)” entwirft der brasilianische Künstler einen kargen und unpolierten Bühnenraum. Zugleich schafft er eine Metapher für die aktuelle Situation in seinem Heimatland Brasilien, in dem seit den jüngsten Wahlen die Intoleranz und Gewalt gegenüber Minderheiten zunimmt und ein Klima der Hoffnungslosigkeit herrscht. Evelins Beschwörung der Boshaftigkeit ist jedoch nicht allein eine Reaktion auf diese gesellschaftliche Situation, sondern ein ungezähmter Akt des Widerstands, ein Bekenntnis zu allem, was sich schwer fassen und kategorisieren lässt.

Infos

Dauer: ca. 70 Min.
Mousonturm-Koproduktion
Am 8.10. Gespräch im Anschluss
Am 9.10., 19 Uhr Warm Up für Publikum

Beteiligte und Förderer

Konzept, Choreografie: Marcelo Evelin
Von und mit: Bruno Moreno, Elliot Dehaspe, Maja Grzeczka, Márcio Nonato, Matteo Bifulco, Rosângela Sulidade, Sho Takiguchi
Sound Design und Technische Leitung: Sho Takiguchi
Dramaturgie: Carolina Mendonça
Recherche-Mitarbeit in Philosophie: Jonas Schnor
Mitarbeit: Christine Greiner, Loes Van der Pligt
Fotografie, Video: Maurício Pokemon
Produktionsleitung: Regina Veloso / Demolition Incorporated (Br) and Sofia Matos / Materiais Diversos (Pt)
Produktionsassistenz: Gui Fontineles
Touring: Andrez Guizze, Regina Veloso
Agentur und Vertrieb: CAMPO / Brazil + Materiais Diversos/ abroad

Koproduktion: HAU – Hebbel Am Ufer (De), Festival d'Automne à Paris / CND - Centre National de la Danse (Fr)., Künstlerhaus Mousonturm (De), Kunstenfestivaldesarts (Be) and Teatro Municipal do Porto / Festival DDD – Dias da Dança (Pt). Unterstützt durch: Rumos Itaú Cultural 2017-2018 (Br), MIME School - Academy of Theatre and Dance (Amsterdam, Nl) und Xing/Live Arts Week (It). Residenz: CAMPO Arte Contemporânea, Teresina-Piauí-Brasil (Br). Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser.

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Geister vertreiben

 

von Elisabeth Nehring

Kein Feuer, nein. Die geschichteten Hölzer auf der dunklen Bühne liegen knochentrocken aufeinander, doch müssten sie nur angezündet werden, um wie Scheiterhaufen zu brennen. Dazu wiegen kleine, auf Leinen gespannte Glöckchen im leichten Wind; die Akustik ihres feinen, immerwährenden Klingelns führt in buddhistische Tempel oder an Orte animistischer Naturreligionen. Die bösen Geister vertreiben – darum könnte es hier gehen, aber der brasilianische Choreograf Marcelo Evelin kreiert mit der Performance „The Invention of Evilness“ eine derart radikale, weil uneindeutige Szenerie, dass jede Interpretation bloße Mutmaßung bleibt.

Vor allem die sieben Tänzerinnen und Tänzer lassen sich in ihrer nackten Körperlichkeit nur unbestimmt und schwer deuten. Wir als Publikum teilen mit ihnen einen Raum, sitzen am Boden, während sie zögerlich herumstehen – nervös schwankend, mit leicht durchgedrückten Rücken und vorgestreckten Bäuchen. Wer sie sind, was sie wollen, worauf sie warten? Wir wissen es nicht. Und sie vielleicht auch nicht.

Doch nach einiger Zeit geht ein wildes Ritual los: Schütteln und Taumeln, nur auf Zehenspitzen auf der Stelle Treten oder mit dem ganzen Fuß Aufstampfen, Haare und Arme in die Luft Werfen, den Körper Aufspreizen oder Zusammenkrampfen. Hexentänze, magische Stammesriten oder Austreibungen von Dämonen? Auch das bleibt offen. Und auch, warum die Gruppe irgendwann zusammenkommt und mit all dem Verknäulen, Verknoten, Aneinanderschmiegen und einander erzittern lassen eine größere Wirrnis produziert als jeder für sich allein. Was sich jedoch aus dieser suggestiven Uneindeutigkeit herausbildet, ist enorme Widerständigkeit – eine Resistenz der Körper gegen soziale und ästhetische Normen, gegen das Einfügen, Einordnen und Einteilen von Menschen in Kategorien wie stark und schwach, schön und hässlich, konform  und  nonkonform.

Als direkten oder indirekten Kommentar zur politischen Situation will Marcelo Evelin seine Produktion nicht verstanden wissen – auch wenn sie zeitgleich mit dem Amtsantritt des rechtsradikalen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro entstanden ist. Doch Kunst und Politik sind in Brasilien schon längst nicht mehr zu trennen, weder für Zuschauerinnen und Zuschauer noch für Künstlerinnen und Künstler. Sein Land, so der kahlköpfige Choreograf mit dem mächtigen weißen Bart, sei schon immer ein gewaltsames und zutiefst rassistisches Land gewesen. Seit der neue Präsident von der Militärpolizei ein immer brutaleres Vorgehen for- Jahrhundert, die Waffengesetze gelockert und bereits am zweiten Tag seiner Amtsinhaberschaft das Kulturministerium abgeschafft hat, scheinen die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse vollkommen aus dem Ruder zu laufen. Angst habe er, bekennt Evelin, der zwischen Europa und Brasilien pendelt, denn die neue Regierung sehe alle Künstler als Feinde und wolle sie mundtot machen.

Bleiben will er allerdings auch, Widerstand leisten. Auch deswegen hat er das Stück in Teresina geprobt, einer schmucklosen Großstadt im Nordwesten Brasiliens. Dort residiert der Choreograf mit seinen Künstlerkolleginnen und -kollegen in einem großen, improvisiert wirkenden Studio mit vielen Säulen, niedrigen Decken und schöner Terrasse. 2006 hat er nach 20 Jahren in Amsterdam das Kulturzentrum am Rande Teresinas eröffnet, seitdem dient es für Proben, Produktionen und Präsentationen: als Heimat, in der verschiedene Künstlerinnen und Künstler Zuflucht finden. Und nun auch als Ort, an dem der Widerstand gedeihen kann – ein stiller, aber hartnäckiger Widerstand, der den rassistischen, homo- und xenophoben Ausfällen der Politik die Kraft der Verweigerung und Uneindeutigkeit entgegenhält.