Cinema of Moral Anxiety

Michał Borczuch & Nowy Teatr

(c) Maurycy Stankiewicz
(c) Maurycy Stankiewicz
(c) Maurycy Stankiewicz
(c) Maurycy Stankiewicz

Cinema of Moral Anxiety

Michał Borczuch & Nowy Teatr

Ein amerikanischer Aussteiger aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, in seiner Blockhütte im Wald der Zivilisation entflohen. Ein polnischer Amateurfilmer am Ende der 1970er Jahre, der eigentlich nur die Geburt seines Kindes auf Super 8 festhalten wollte und plötzlich die manipulative und also politische Sprengkraft seiner Kamera kennenlernt. Jugendliche Flaneure von heute irgendwo zwischen Netflix, Snapchat und Europäischer Union, alternde Schauspieler*innen mit drahtigen Körpern und scheiternden Restitutionsansprüchen: Die Bühne in dieser rasant konzentrierten Theaterperformance ist eine Schnellstraße, auf der sich beständig Menschen und Zeiten begegnen, inspiriert etwa von Henry Thoreaus "Walden" ebenso wie von den frühen Filmen Krzysztof Kieślowskis. Sie beschleunigen, verlangsamen oder halten inne, und die Zeit wird hier zum Raum. Wie wollen wir zusammenleben, fragen sie sich immer wieder, und wollten wir überhaupt zusammenleben, oder wollen wir noch?

Infos

Dauer: 120 Min.
Sprache: Polnisch mit deutschen und englischen Übertiteln
Erstaufführung im deutschsprachigen Raum
Mousonturm-Koproduktion
Am 31.8. Einführung um 18.30 Uhr und Gespräch im Anschluss
Am 1.9. Einführung 17.30 Uhr
31.8. Kombiticket mit "Moja Prywatna Apokalipsa (My Private Apocalypse)"

1.9. Kombiticket mit "Moja Prywatna Apokalipsa (My Private Apocalypse)"

 

Beteiligte und Förderer

Regie: Michał Borczuch
Mit: Bartosz Bielenia, Dominika Biernat, Marek Kalita, Maja Ostaszewska, Ewelina Pankowska, Piotr Polak,  Jacek Poniedziałek, Eliza Rycembel, Krzysztof Zarzecki
Text, Dramaturgie: Tomasz Śpiewak
Set Design, Kostüme: Dorota Nawrot
Musik: Bartosz Dziadosz Pleq
Lichtdesign:  Jacqueline Sobiszewski
Video: Wojciech Sobolewski

Das Festival “Unfuck my future. How to live together in Europe” wird gefördert im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie von der Bundeszentrale für politischen Bildung.  „Cinema of Moral Anxiety“ wird  unterstützt durch das Frankfurt LAB. Unterstützt durch den Freundeskreis Frankfurt/Krakau.

Mehr Informationen

Das Theater in Zeiten moralischer Ängstlichkeit

Von Sascha Ehlert

Michał Borczuch – sieht jünger aus als er ist, auf Englisch würde man sagen: „He’s a soft-spoken kind of guy“ – schaut auf sein Telefon und entschuldigt sich. Er habe noch eine Verabredung, ob es okay sei, wenn wir den Rest unseres Gesprächs auf wann anders vertagen. Ich sage „sure“, trinke meinen letzten Bierschluck, und wir gehen rein ins WAU, am Halleschen Ufer in Berlin- Kreuzberg, um unsere Rechnung zu bezahlen. Borczuch ist zu diesem Zeitpunkt gerade in Berlin, um dort mit „Untitled (Together Again)“ anhand dokumentarischer Materialien zur HIV-Epidemie den Einfluss, den die Entdeckung von AIDS in den Achtzigern auf das heutige Selbstverständnis queerer Communities hat, zu untersuchen. Gesprochen haben wir zuvor allerdings dennoch vor allem über Borczuchs Inszenierung „Cinema Of Moral Anxiety“, eine Hommage an die Filmemacher, die den polnischen Film zu Zeiten des Sozialismus geprägt haben, und die gleichermaßen analytisch scharf auf die urbane polnische Gegenwart schaut.

Ein paar Wochen zuvor sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben den Warschauer Kulturpalast. Kein Überbleibsel der Sowjetunion ist so imposant, optisch so dominant wie dieses klassizistische Monstrum, das die rechtspopulistische PiS-Partei am liebsten in die Luft sprengen würde. Den geschäftig durch die Warschauer Innenstadt huschenden Menschen – wahrscheinlich tun sie dies unter anderem, weil die von übergroßen Gebäuden und viel zu breiten Straßen dominierte Innenstadt nicht wirklich ein Ort für Fußgänger ist – scheint dies egal. Die Passanten schauen natürlich so wie in jeder anderen urbanen Innenstadt drein: gehetzte Gesichter, die schnell zwischen Smartphone-Display und Straße hin und herschalten. Allerdings mit einem entscheidenden Fehler in der Matrix: Mit Ausnahme von ein paar Menschen mit asiatisch wirkenden Gesichtszügen – deren Outfits und Kameras sie als Touristen outen – sieht hier alles sehr Bilderbuch-polnisch aus. Das hiesige kulinarische Angebot spiegelt die mangelnde Vielfalt. Man kann im Warschauer Zentrum wunderbare jüdisch-polnische Backwaren und israelische Pizza finden, aber da hört es dann auch schon fast auf mit dem Kosmopolitismus.

Ein Eindruck, den mir Borczuch einige Wochen später bestätigt: „Es ist wahr, Warschau ist nicht unbedingt die internationalste und toleranteste Stadt, die man sich vorstellen kann. Ich bin ja in Krakau aufgewachsen, dort ist der Ton insgesamt liberaler als in Warschau“, sagt er. Immerhin gäbe es in Warschau immer noch die größte und vielseitigste Theaterszene. Auch diese stehe zwar unter zunehmendem Druck von rechts, allerdings halte sich die politische Einflussnahme auf das Theater insbesondere in Warschau in Grenzen, da die Stadt weiterhin vom liberalen Bürgermeister Rafał Trzaskowski regiert wird.

Als ich am frühen Abend in einem Toyota-Uber in das südlich des Zentrums gelegene Mokotów gefahren werde, ändert sich das Stadtbild rapide, Straßen und Gebäude werden kleiner, Bäume säumen den Straßenrand. Mitten in diesem lebenswert erscheinenden Wohnviertel liegt das Nowy Teatr, das den Ruf genießt, unter Warschaus Theatern das vorausschauende und moderne zu sein. Zudem wurde es von einer Künstlergruppe um Krzysztof Warlikowski – einem der bis heute erfolgreichsten Theater-Exporte Polens – gegründet und trägt seitdem stolz das Siegel „Avantgarde“ vor sich her. Ein bisschen so etwas wie die Volksbühne Polens? Vielleicht. Auf Borczuch jedenfalls hatten beide Theater entscheidenden Einfluss. Ebenso wie Warlikowski studierte Borczuch in Krakau Regie, allerdings dachte er zunächst, er würde sich in Richtung Film entwickeln. Dass er letztlich doch beim Theater landete, sei durchaus auch der internationalen Strahlkraft der alten Volksbühne geschuldet, in Berlin erzählt er mir unter anderem davon, wie nachhaltig es ihn beeindruckte, das erste Mal eine Castorf-Arbeit zu sehen (Dostojewskis „Schuld und Sühne“).

Zurück in Warschau betrete ich eine Lagerhalle, in der seit ein paar Jahren das Nowy Teatr zuhause ist. Im überdimensionierten Foyer, das eigentlich eine riesige Halle ist, tummeln sich bereits Dutzende Menschen. Man braucht nicht lange, um diesen Ort als „cool“ zu identifizieren. Cool ist die Einrichtung – Industrial Chic & Design- Klassiker –, cool ist die offerierte Getränkeauswahl, Indian Pale Ale aus Slowenien & Aperol Spritz. Und natürlich ist auch das Publikum: cool und geschmackvoll gekleidet. Als sich schließlich die Tore zur zweiten, ebenso großen Lagerhalle öffnen, ist die flexibel verstellbare und verschiebbare Zuschauertribüne schnell fast komplett gefüllt. Durch die minimalistische Theaterarchitektur erinnert einen das Ganze, kurz bevor es losgeht, atmosphärisch am ehesten an PACT Zollverein in Essen (allerdings ohne den Ballast spürbarer Geschichte).

Einen Vorhang gibt es nicht, das Bühnenbild ist also von Anfang an sichtbar. So wie Nowy-Gründer Warlikowski legt auch Borczuch Wert darauf, seine Arbeiten möglichst unmittelbar zu gestalten und das Publikum dazu zu bringen, sich als Teil der Inszenierung zu fühlen. Eine leuchtend gelbe Stange, eine Straße, ein paar Leuchtstäbe und eine bemalte Leinwand – that’s it. Und mehr, wie sich in der Folge herausstellt, braucht das Ensemble auch nicht, um eine sehr eigene Energie auf die Bühne zu bringen, die sich betont unaufgeregt präsentiert, aber viel Gefühl und Menschlichkeit transportiert.

Und das übrigens ebenso geschmackvoll, wie sich auch das Nowy Teatr der Welt präsentiert. Die Kostüme erinnern zwar an sozialistische Tristesse, sind aber auf eine Art retro-chic, dass sie sich auch gut in der Vogue machen würden. Kein bisschen ist hier zu viel und das gilt ebenso für die Spielweise der Schauspieler. Borczuch mag in seiner Arbeitsweise an einen anderen Volksbühnen-Star erinnern – ähnlich wie René Pollesch bringt er selbst Texte auf die Probe mit, entwickelt, was tatsächlich gesagt wird, aber in enger Zusammenarbeit mit den Performern –, allerdings ist das daraus entstehende Spiel doch etwas ganz anderes. Anstatt eine andauernde Anspannung / Überspannung auf die Bühne zu hieven, agiert Borczuchs Ensemble mit stoischer Gelassenheit.

Auf die Bühne bringen sie eine vor allem auf den ersten Blick nicht naheliegende Kombination: Henry David Thoreaus literarische Dokumentation einer Weltflucht – der „Walden“ – trifft an diesem Abend auf das dem Stück seinen Titel leihende „Cinema of Moral Anxiety“, mit dem unter anderem Krzysztof Kiéslowski und Andrzej Wajda versuchten, die Stimmungslage im Polen der Siebziger und Achtziger einzufangen. Ungewöhnlich ist diese Kombination nicht nur, weil sie Ost und West verbindet, sondern auch zwei auf den ersten Blick völlig verschiedene Intentionen in einen Topf schmeißt: Während Thoreau im „Walden“ den selbstbezogenen Versuch unternimmt, ein Leben im „Einklang mit der Natur“ zu leben, untersuchte das „Cinema of Moral Anxiety“ die Transformation(en) der (Stadt-)Gesellschaft in Zeiten des Sozialismus. Borczuch und sein Ensemble befinden allerdings: So weit liegen diese beiden künstlerischen Welten gar nicht auseinander, vor allem, wenn man diese Stoffe mit Hinblick auf gegenwärtige Stichworte wie die Vereinzelung des Menschen in der Gegenwart liest.

Während sich auf der Bühne langsam herauskristallisiert, warum die auf den ersten Blick ungewöhnliche Paarung an literarischem und filmischem Material eigentlich optimal zusammenpasst, entwickelt sich hinter der Bühne zunächst unbemerkt ein Problem: Die Technik streikt und lässt das Ensemble nach einer guten Dreiviertelstunde im Stich. Borczuch entscheidet sich an diesem Abend deshalb dazu, seine Inszenierung zu unterbrechen, was mich dazu bringt, Sie, liebe Leserschaft, mit einem dramaturgisch sehr simplen Kniff dazu zu bringen, ins Theater zu gehen und die Aufführung im Frankfurt LAB mit eigenen Augen zu sehen.

Zwar muss an diesem Abend in Warschau die Vorstellung, die eigentlich ohne Pause über die Bühne gehen sollte, für eine gute Stunde unterbrochen werden, allerdings bleiben trotzdem große Teile des Publikums da (ich auch) und sehen am Ende eine zweite Hälfte, die konstant die Intensität erhöht und bis zum Ende fordert. Vielleicht ist das am Ende auch das, was Borczuch aus der Volksbühne mitgenommen hat, was ihn mit dem deutschen Theater nach Frank Castorf verbindet: eine große Lust daran, literarische und filmische Stoffe zu vermischen und den Zuschauer dadurch zum Denken und zu einer emotionalen Reaktion auf das Gesehene zu bringen. Und ihn mit dem Gezeigten alleine zu lassen, moralische Fragezeichen im Raum stehen zu lassen. Ob der beziehungsweise die urbanen Eigenbrötler nun das richtige Leben im Falschen versuchen zu leben oder das falsche Leben im Richtigen – das lässt die Regie bewusst offen. Und dennoch: Dieser Abend beglückt, eben weil er zum Denken anregt, aber vor allem angesichts der stoischen Anmut, mit der er gespielt wird.