Familie (Family)

Milo Rau & NTGent

(c) Michiel Devijver
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Familie (Family)

Milo Rau & NTGent

2007 erhängte sich in Calais eine ganze Familie: die Eltern und ihre zwei Kinder. Ein Motiv wurde nie gefunden. Im Abschiedsbrief heißt es: "Wir haben es vermasselt, sorry." In "Familie" steht eine echte Familie auf der Bühne: Die Schauspieler*innen An Miller und Filip Peeters spielen nicht nur als Paar zusammen, sondern auch zum ersten Mal in ihrer Karriere mit ihren beiden Teenager-Töchtern Leonce und Louisa – und ihren Hunden. "Familie" ist ein Experiment, eine ethnologische Studie zeitgenössischen Privatlebens, eine Ausstellung des Alltags. Ausgehend vom mysteriösen Fall der Familie Demeester untersucht die Familie Peeters-Miller dabei ihre eigene Geschichte und hinterfragt die Konstruktion Familie als Kern und Ursprung unserer heutigen Welt. Fiktion und Realität vermischen sich, während wir auf der Bühne einen Abend wie in vielen Familien sehen – nur dass es der letzte ist. Sehen wir auf der Bühne das Haus der Familie Demeester oder ist es das Haus der Familie Peeters-Miller? Wir beobachten die Mitglieder einer Familie beim Essen, Telefonieren, Duschen. Sie schauen Videos, hören Musik, räumen auf, sprechen über alltägliche Dinge und gemeinsame Erinnerungen. Und in dieser Darstellung des Gewöhnlichen stellt sich die Frage: Warum sind wir hier? Wäre es nicht besser, wenn wir verschwinden würden?

Nach dem internationalen Erfolg der Produktionen "Five Easy Pieces", die das Leben des Mörders und Kinderschänders Marc Dutroux mit Kindern auf die Bühne brachte, und "La Reprise" über den homophoben Mord an Ihsane Jarfi in Liège, komplettiert Milo Rau seine Trilogie der modernen Verbrechen mit einem Familiendrama.

Infos

ALL IN ab 16 Jahren
Dauer: ca. 80 Min.
Sprache: Niederländisch mit deutschen und englischen Übertiteln
Erstaufführung im deutschsprachigen Raum
Mousonturm-Koproduktion
Donnerstag, 27.2. Künstlergespräch mit der "Familie", auf Englisch
Freitag, 28.2. Künstlergespräch mit Milo Rau, Moderation: Matthias Pees, Gast: Dr. Christine Reif-Leonhard, Oberärztin in der Psychiatrie an der Uniklinik Frankfurt, Mitglied von FRANS (Frankfurter Netzwerk Suizidprävention)

Wir weisen darauf hin, dass im Stück der Suizid einer Familie dargestellt wird und dass die Aufführung in einigen Szenen auf manche Zuschauer*innen eine verstörende Wirkung haben könnte.

Beteiligte und Förderer

Mit: Leonce Peeters, Louisa Peeters, An Miller, Filip Peeters
Regie: Milo Rau
Text: Milo Rau & ensemble
Dramaturgie & Recherche: Carmen Hornbostel
C
oaching: Peter Seynaeve
Setdesign: Anton Lukas
Kostümdesign: Louisa Peeters & Anton Lukas
Video und Live-Kamera: Moritz von Dungern
Regieassistenz: Liesbeth Standaert
Dramaturgieassistenz: Eline Banken
Lichtdesign: Dennis Diels
Musikarrangement: Saskia Venegas Aernouts
Sound & Videotechnik: Raf Willems
Produktionsleitung: Els Jacxsens
Technische Leitung: Chris Vanneste
Tourmanagement: Elli De Meyer

Auf Tour
Übertitel: Elli De Meyer, Liesbeth Standaert, Eline Banken
Inspizienz: Chris Vanneste, Oliver Houttekiet, Raf Willems, Marc Swaenen
Lichttechnik: Sander Michiels, Frank Haesevoets, Bram Geldhof, Anton Leysen
Sound & Videotechnik: Frederik Vanslembrouck, Dimitri Devos, Korneel Moreaux, Saul Mombaerts
Live-Kamera: Raf Willems, Victor Goddyn, Stijn Pauwels, Wim Piqueur

“Family” ist eine Produktion des NTGent, koproduziert von Romaeuropa Festival, Künstlerhaus Mousonturm, Schauspiel Stuttgart, Théâtre de Liège und Scène Nationale d’Albi. Unterstützt The Belgian Tax Shelter. Gefördert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst im Rahmen der intergenerationalen Vermittlungsinitiative ALL IN - FÜR PUBLIKUM JEDEN ALTERS.

Mehr Informationen

„Eine Ausstellung unseres Zeitgeistes”
Gespräch mit Milo Rau

Im Stück "Familie" wird der kollektive Selbstmord einer Familie, ihr letzter gemeinsamer Abend erzählt. Ist Familie nicht der Inbegriff des Lebens, der Hoffnung auf Weiterleben?

Milo Rau: So ist es. Ich bin selbst Vater von zwei Töchtern, und man findet etwas in einer Familie, das man sonst nirgends findet: eine Art von Heimat, von Sinn vielleicht sogar. Eltern werden, das ist, als würde man emotional nach einer langen Zeit im Exil nach Hause zurückkehren. Und gerade deshalb ist jede Familie natürlich auch der Ort vieler Enttäuschungen: Kinder werden größer und ziehen irgendwann aus. Oder, und darum geht es natürlich auch in der Familie, die wir auf die Bühne bringen, wo beide Eltern sehr erfolgreiche Schauspieler sind: Man hat zu wenig Zeit für seine Kinder und macht sich dann, wenn es zu spät ist, Vorwürfe.

„Alle glücklichen Familien gleichen einander“, schreibt Tolstoi, „jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ Das Stück bezieht sich auf einen realen Fall, auf die Geschichte der Familie Demeester aus Calais in Nordfrankreich, nahe der belgischen Grenze. Warum hast Du dich gerade für diesen – sehr mysteriösen – Fall entschieden?

Wir haben uns sehr viele verschiedene Fälle angeschaut. Meistens steht eine Trennung im Mittelpunkt, darauf folgt eine Depression, Enttäuschungen aller Art. Und am Ende bringt ein Elternteil die Kinder um, aus Rache oder aus einer Art fehlgeleitetem Altruismus. In Wahrheit sind sich all diese Unglücksfälle sehr ähnlich – es gibt immer eine psychologische Erklärung, und die kann man natürlich auf der Bühne nachspielen. Uns hat aber das Unerklärliche interessiert, also dieses blanke Warum? In der Familie Demeester gab es keine psychischen oder ökonomischen Probleme, keine Krankheiten, keine Drogen, keine Trennungs- oder Rachegeschichten. Eines Abends beschlossen diese vier Menschen einfach, ihr Leben zu beenden. Sie verfassten einen absolut minimalistischen Abschiedsbrief: „Wir haben es vermasselt, sorry.“ Und dann erhängten sich die Eltern und ihre zwei Kinder in der Veranda. Ein absolutes Rätsel.

Für das Stück arbeitest Du mit der Familie Peeters/Miller, zwei bekannten belgischen Schauspielern und ihren zwei Teenager-Töchtern. Wofür steht diese Familie? Ist sie in irgendeiner Weise repräsentativ?

Für unsere Unternehmung ist es die ideale Familie: Es ist eine durchschnittlich glückliche Familie, mit den Problemen, die wir alle kennen. Die Eltern kommen aus dem mittleren Bürgertum, sie sind gut beschäftigte TV-und Theater-Darsteller, die Kinder gehen auf eine gute Schule. Sie haben die üblichen Konflikte mit ihren jeweiligen Rollen als Ehefrau, Vater oder Töchter. Gerade weil sich die Geschichte der Familie Demeester in einer Familie spiegelt, in der sich wohl die Mehrheit der Theaterzuschauer wiedererkennt, können wir die Konflikte zwischen dem Wunsch nach Unabhängigkeit und der Angst vor der Einsamkeit, zwischen Selbstbestimmung und dem Angewiesensein auf andere sehr unaufgeregt untersuchen. Meine Stücke handeln ja immer von der Normalität: in der Europa Trilogie erzähle ich die Gewaltgeschichte Europas aus der Sicht völlig durchschnittlicher europäischer Bürgerinnen und Bürger, in Five Easy Pieces erfahren wir aus den Augen belgischer Kinder die Geschichte des Mörders Dutroux. So ist es auch in Familie: Wir sehen eine völlig normale Familie von sich selbst erzählen, ihren letzten Abend erleben. Ich glaube, die Familie Peeters/Miller ist wirklich typisch für das Bürgertum im heutigen Westeuropa, oder anders ausgedrückt: Sie lebt in den genau gleichen Widersprüchen wie wir alle.

Was meinst Du konkret?

Sie haben zwei Autos und ein großes Haus, sie konsumieren zu viel, reisen zu viel, leben auf Kosten zukünftiger Generationen und natürlich der Dritten Welt. Sie lieben sich, aber sie können diese Liebe oft nicht so verwirklichen, wie sie gerne würden. Der Alltag von zwei Starschauspielern zum Beispiel ist einfach zu hektisch, weshalb die Kinder in einem Internat leben. Und die beiden Teenager-Töchter hinwiederum stellen sich all die Fragen, die sich Teenager eben stellen: Will ich so leben wie meine Eltern? Was soll werden aus mir? Und warum leben wir eigentlich überhaupt? Das ist ja ein sehr existenzialistisches Alter, voller Zweifel und zugleich voller Selbstbewusstsein, weshalb das Stück auch mehr auf die Töchter als auf die Eltern fokussiert. Sehr junge Menschen leben und denken ja, als wären sie die ersten und zugleich letzten Menschen, was sehr interessant ist. Aber wie bei den Demeesters gibt es bei allen Zweifeln und allen Enttäuschungen absolut keinen akuten Grund, dass sie sich umbringen würden. Nur dieses existenzielle Gefühl, dass einem etwas entgleitet, dass man nicht so lebt und gelebt hat, wie man es sich einmal vorgestellt hat. Und natürlich geht es auch nicht „nur“ um die Familie Peeters/Miller oder Demeester, es geht auch um das Grundgefühl unserer Zeit: dass wir es „vermasselt“ haben, als Menschheit, dass wir alle nicht so gelebt haben, wie wir es hätten tun sollen. Die Familie Peeters/Miller ist also gewissermaßen die ideale Familie, um diese metaphysische Lebensmüdigkeit der westlichen Zivilisation darzustellen: Wenn die sich umbringen, diese eigentlich völlig zufriedene Familie mit ihren kleinen Problemen – dann sollte sich eigentlich jeder umbringen.

Für "Orest in Mossul" bist Du und Dein Team in die ehemalige Hauptstadt des IS gegangen, um die andauernde Kette von Rache und deren globalen Kontext zu untersuchen. Im Anschluss hast Du "Das Neue Evangelium" gedreht, einen Film über die Passion Christi, für den Du mit Flüchtlingen in Süditalien gearbeitet hast, und als nächstes inszenierst Du im brasilianischen Amazonas Sophokles' Antigone zusammen mit der Landlosenbewegung und indigenen Aktivist*innen. Das sind allesamt politische Projekte, die auf die Missverhältnisse unserer Welt hinweisen. Wie kommt es, dass Du jetzt ein so intimes Stück über eine Familie machst, vor allem über eine so normale und glückliche Familie der westlichen Mittelschicht, wie Du sie beschreibst?

Gerade im Zusammenhang meiner Beschäftigung mit den großen antiken Texten - Aischylos, Sophokles, das Neue Testament - macht die Analyse des westlichen Bürgertums für mich Sinn. „Die Erde ist von ihren Bewohnern entweiht", heißt es in der Bibel, „ihre Bewohner haben sich schuldig gemacht“. Es erscheint seltsam, einen aktivistischen Film über Jesus mit Flüchtlingen und Sklavenarbeiter*innen in Italien zu drehen, Antigone mitten im brennenden Amazonas zu inszenieren, während parallel dazu an einem kleinteiligen Theateressay wie Familie gearbeitet wird. Aber plötzlich merkt man: Diese Dinge gehören zusammen, das Große und das Kleine, das Private und das maximal Politische. Diese Flüchtlinge und Erntearbeiter sind ja nur deshalb Sklaven, damit wir so konsumieren, wie wir es tun, der Amazonas brennt nur, damit wir so leben können, wie wir leben. Und dabei sind wir nicht einmal glücklich.

Jede Sekunde wächst die Weltbevölkerung statistisch um 2,5 Menschen. Wie wir ihre Grundbedürfnisse stillen, ihren Müll beseitigen und ihren CO2-Abdruck verringern sollen, ist unklar. Ist es überhaupt noch vertretbar, dass man Kinder bekommt? Gibt es noch einen Ausweg oder stecken wir in einer ausweglosen Situation?

Natürlich wäre der Antinatalismus der einfachste Ausweg: Wenn die Menschheit verschwindet, dann hat der Planet kein Problem mehr. Ich glaube, dass die Generation der heutigen Kinder und Teenager die erste ist, die mit dieser Idee aufwächst: dass jeder Mensch objektiv gesehen zu viel ist, dass die Zukunft nicht besser, sondern schlechter wird. Das kommt natürlich auch im Stück vor, die beiden „Erzählerinnen“ sind die Kinder Peeters. Als Teenager fragt man sich ja sowieso, was das alles soll. Man steckt zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, man verliert die Heimat der Familie und hat noch keine neue gefunden. Zugleich helfen die Lehren der Vergangenheit nichts mehr.

Sich die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen ist das eine. Das andere, sie mit einer Familie auf der Bühne zu diskutieren an Hand eines Falles, der mit einem kollektiven Selbstmord endet. Warum hast Du dieses Stück mit einer „echten“, auch noch so glücklichen und berühmten Familie inszeniert?

Franz Xaver Kroetz’ Wunschkonzert – ein Stück aus den frühen 70ern, in dem sich eine einsame Sekretärin umbringt – hat ein Genre begründet: man schaut depressiven, meist minoritären Personen zu, die sich in ihrer Wohnung umbringen. Ich wollte ein Stück inszenieren, das diese Idee aufnimmt, aber tiefer geht, sowohl philosophisch als auch formal. Also mit Menschen arbeiten, die wirklich aus dem eigenen Leben heraus auf der Bühne sind. Für die Familie Peeters/Miller ist das ein unglaublich mutiger Schritt, den wir sehr bewundern. Familie ist aber auch von der formalen Setzung her ziemlich radikal: Wir schauen einer Familie beim Essen, Duschen, Englisch lernen, Videos gucken zu. Wir sehen, wie sie miteinander über Alltagsdinge sprechen, wie sie telefonieren, Musik hören, die Wohnung aufräumen undsoweiter. Warten auf Godot gewissermaßen, aber eben ohne existenzialistische Clownerie und philosophische Höhenflüge, sondern in der ganzen kleinbürgerlichen Plattheit unserer Zeit. Diesen nihilistischen, melancholischen, ja suizidalen Zeitgeist quasi ethnologisch auszustellen, in einer Glasbox, das hat uns interessiert.

Du hast schon oft mit einem gemischten Cast aus professionellen Schauspieler*innen und Laiendarsteller*innen gearbeitet. Mit einer Familie aber noch nie. Was war daran besonders für Dich? Und konntest Du im Probenprozess Deine eigenen familiären Erfahrungen ausblenden oder haben sie Dir geholfen?

Ich habe sehr viel gelernt! Als Regisseur drückt man sich ja durch andere aus, und wie gesagt: die Familie Peeters/Miller ist meiner sehr ähnlich, nur dass sie mir ein paar wenige Jahre voraus sind. Die Produktion ist so für mich ein Blick in die nächste Zukunft: Was mit einer Familie geschieht, wenn die Kinder in die Pubertät kommen, wie man in gewisser Weise Abschied voneinander nimmt und doch für immer zusammengehört. Zum anderen ist Familie ein Stück über den künstlerischen Mittelstand insgesamt, eine Art Sittenporträt unserer Zeit der Ratlosigkeit, in der die Rezepte des Fortschritts, des Erfolgs, des Kapitalismus in eine Sackgasse geraten sind. Und es geht auch um die letzten Fragen: Warum sind wir eigentlich überhaupt hier, wir Menschen? Warum klammern wir uns eigentlich so am Leben fest: obwohl wir zwangsläufig krank und alt werden, obwohl wir ja ganz objektiv das Problem und nicht die Lösung sind? Insofern ist Familie auch ein Stück über das Trotzdem: Lasst uns leben, lasst uns diese wunderbare Welt bewohnen, gemeinsam und trotz allem!

Das Gespräch führte Carmen Hornbostel.