Fluss (Stadt Land)

Kötter/Seidl

(c) Şafak Velioğlu
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Fluss (Stadt Land)

Kötter/Seidl

FLUSS (STADT LAND) versetzt das Publikum für eine Stunde an zwei Orte zugleich: als Gruppe in einen leeren Bühnenraum und mit Hilfe von VR-Brillen – einzeln, auf sich selbst zurückgeworfen – ins Niemandsland an das winterliche Ufer des Flusses Evros. Der trennt dort Griechenland von der Türkei und die EU vom Rest der Welt. Nur wenige Spuren in der filmischen 360-Panorama-Landschaft erinnern an die Anwesenheit von Menschen: eine Holzhütte, ein halb fertiger Grenzzaun, ein streunender Schäferhund. Die Leere am Grenzfluss ist die Bedingung unseres Zusammenlebens im Zentrum Europas. Und sie stiftet Raum für eine Klangkomposition, die feinste Geräusche aufgreift, transformiert und schließlich die Leere überbrüllt. Zwischen Isolation und Vernetzung stellt FLUSS (STADT LAND) die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, die Schutz bietet, aber zusehends auf dem Spiel steht.

Infos

Dauer: 60 Min.
Keine Sprachkenntnisse erforderlich
Mousonturm-Koproduktion

Triple-Ticket mit „Stadt“ und „Land“ buchbar: € 25 (erm. € 12)
Achtung: Die Vorstellungen von „Land“ und „Fluss“ am 17. & 18.1. können am selben Tag besucht werden.

Beteiligte und Förderer

Künstlerische Leitung: Daniel Kötter, Hannes Seidl
Bühne und Ausstattung: Elisa Limberg
Musikalische Mitarbeit: Robyn Schulkowsky
Location Manager Evros: Efthymios Angeloudis
Technische Leitung: Sebastian Schackert
Ausstattungsbetreuung: Natalia Orendain
Produktionsleitung: ehrliche arbeit - freies Kulturbüro

Eine Produktion von Kötter/Seidl in Koproduktion mit dem Festival KONTAKTE '19 der Akademie der Künste und dem Künstlerhaus Mousonturm. Gefördert durch das Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main und die Senatsverwaltung für Kultur und Europa des Landes Berlin. Mit freundlicher Unterstützung des Studios für Elektroakustische Musik der Akademie der Künste. Dank an Jan Jacob Hoffmann.

„STADT LAND FLUSS“ wird gefördert durch das Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main sowie durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst im Rahmen der intergenerationalen Vermittlungsinitiative ALL IN – FÜR PUBLIKUM JEDEN ALTERS.

Mehr Informationen

ALLES FLIESST. AUCH DER GRENZFLUSS

 

1.

Du stehst vor einem Fluss mit vielen Namen und Begriffen. Mariza, Meriç Nehri, Hebrus, Ἕβρος. Schon eine Schrift reicht nicht aus, um ihn so mit seiner Zeit und seinem Raum zu schreiben, wie er fließt. Vom Laut ganz zu schweigen. Man muss einen Fluss nicht verrätseln, das macht auch der Fluss nicht von selbst. Sobald jemand – und sei das eine sie oder etwas – an das Ufer tritt, setzt dasjenige ein, aus dem alles nur erdenklich Ratbare, lose oder strikt, werden kann. Auch die Politik und das Politische, auch das Recht und auch das Gesetz und auch die Kunst und das Spiel sind dann, ab da, einsetzbar. Auf den Fluss mit großem Theater oder kleiner Musik zu reagieren, das wird sein Treiben nicht erledigen. Jedes Bild wird an ihm sich selbst fixieren, und dreht man über ihn einen Film, wird das eine Haut der Betrachter, ihn decken wird es nicht.

Der Kopf des Orpheus trieb hier. Die man in ihren guten Tagen Bacchantinnen nannte und an ihren schlechten Tagen Mänaden, die haben ihn hineingeworfen und an welchem Tag das war, das wird nicht überliefert. Seit 2010 ging es 41 Menschen wie dem Orpheus. Ein mindestens hat hier nichts zu suchen, solange man nicht kalkuliert. Ihre Köpfe trieben zu Tode gebracht hier, dass sie singen oder lieben wollten, kann angenommen werden, muss aber nicht. Sicher ist, dass ihre toten Köpfe in Statistiken als illegale Einwanderer auftauchen und sie auch zum Diskurs um Schuld freigegeben sind. Aber nicht nur das sind sie, auch Pietät steht für sie bereit. Die 41 sind Wiederauftauchende, die im Fluss nicht blieben. Noch die Melancholie des Flusses ist eingefangen in Bezauberndes, das läuft. Würde sein Teilen irgendwann stoppen, man müsste Bescheid geben und ihn aus der Liste der Flüsse streichen.

 

2.

Der Schiffbrüchige muss keine griechische Figur sein. Er landet auch ungriechisch an einem Strand, bewusst- und leblos. Dort wacht er mit etwas Glück noch einmal auf und findet das Meer nach großem Sturm wieder ruhig. Da packt ihn die Wut und er beschimpft die See, die ihn zerbrach. Schimpf nicht auf mich, sondern auf die Winde, denn ich bin von Natur nicht anders als die Erde; doch jene fallen über mich her und wühlen mich zu wilden Wogen auf. Von dieser Meeresbeschimpfung erzählt Blumenberg. Die See hat eine Ausrede, die dem Blumenberg nicht unmoralisch erscheint. Nur befriedigt sie nicht, das macht Moral wohl nie. Blumenberg nennt das, was Moral sein könnte, ärgerlich. Die See hat eine Ausrede, sie sei so anders als das Land nicht, nur die Winde trügen Schuld an ihrem Wogen und Wüten. Die Fabel liefert eine Pointe, aber sie macht auch Schluss, bevor die Winde noch einmal angehört werden.

Der Fluss braucht keinen Wind, wozu Ausreden? Ihm sagt keiner was, auch die was rufen, tun das nicht. An seinem Ufer finden sich immer ein paar Königskinder, mal größer, mal kleiner geschrieben. Und sind sie zerrissen, dann finden sich auch einige, ganz einige unter ihnen. Ganz einig mit sich, Paar in sich wie die Siegenden diesseits und jenseits des Rheins mit ihrer Brut und dem eigenen Nachkommen, könnten sie noch vom Absaufen singen, es ist ja nur Spaß. Das Reine ist Gewäsch, dort fällt es leicht zu laichen, der Ernst wiegt schwer. Die Sorge geht über den Fluss, nur die Sorge, die Spaßenden und Singenden nicht. Und weil nicht nur die Größten in Pfützen und Rinnsalen ersaufen können, müssen Trost und Lösung gesucht werden, in Sicht sind sie noch nicht.

 

3.

Schon bevor er Fluss wird, gehört der Bach zu den fließenden Stellen. Am Rande der Stadt der Schiffbrüchigen gibt es einen Bach der getrennten Elemente, ein Flüsslein der geteilten Materie. Riacho da materia diviza lautet sein Name, er bildet eine fast zu übersehende, überwucherte und dünne Linie zwischen Recife (der schon erwähnten Stadt der Schiffbrüchigen) und Camaragipe in Südamerika. Nicht jeder Bach wird Fluss, nicht jeder seiner Begriffe Name, aber es liegt vor allem am Meer, der größten Versammlung, wenn das nicht geschieht.

Yukon ist in manchen indigenen Sprachen die Bezeichnung für die letzte Grenze und den gehinderten Kontakt zu einem anderen Ufer. Das Unübersteigbare, das Unberührbare, das, was auch dann noch unberührt bleibt, wenn du in ihm so völlig aufgehst, das ist Yukon. Die absolute Passage, eine endgültige Erfüllung und/ oder ein Ersaufen, das ist Yukon. Paradies, Paradas, für das Rübermachen gibt es Ziele mit vielen Seiten.

Yukon empfängt Dich immer, egal wie. Einmal war Yukon ein Begriff, aber Begriffe werden zu schönen Namen, wenn andere kommen und ihre Sprache der Gegend überstülpen, um sich diese Gegend zu greifen. In kolonialisiertem Denken werden auch Begriffen Namen. Yukon heißt heute eine Fluss im Nordwesten Amerikas. Auf dem Weg zum unverwechselbaren Namen wird das Besondere zurückgewonnen, das Allgemeine treibt davon.

Grenzflüsse gehören wie jener riacho da materia diviza in die Tropen und zu den Tropen. Die Trennung geht durch das Fliessen fliessend. Wozu sie auch gehören, sie treiben weiter.

Text: Fabian Steinhauer