Die Kränkungen der Menschheit

Anta Helena Recke

(c) Gabriela Neeb
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Die Kränkungen der Menschheit

Anta Helena Recke

Mit ihrem neuesten Stück „Die Kränkungen der Menschheit“ ist Anta Helena Recke auch 2020, nun bereits zum zweiten Mal, zum Theatertreffen eingeladen. Nach ihrer ‚Schwarzkopie‘-Reinszenierung von „Mittelreich“ stellt sie nun die eurozentrische Behauptung einer universellen Menschheits- und Kunstgeschichte auf den Prüfstand. Auf der Bühne entsteht ein hybrider Raum zwischen Museum, zoologischem Garten und Labor. Und jede Gruppe, die diesen Raum bevölkert, führt näher an jene fragilen Momente, an denen eine Vorstellung von Welt durch eine andere abgelöst wurde. Zu den von Sigmund Freud formulierten drei „Kränkungen der Menschheit“ – die Erkenntnis, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, dass der Mensch vom Affen abstammt und dass er sein Unbewusstes nicht steuern kann – gesellt sich eine vierte: die Tatsache, dass nicht von „EINER Menschheit“ auszugehen ist. Gerade im globalen Erstarken reaktionärer Kräfte zeigt sich, wie tiefgreifend die Illusion einer weißen männlichen Menschheit im weißen Körper immer noch verankert ist.

Infos

ALL IN ab 14 Jahren
Dauer: 75 Min.
Sprache: Deutsch
Am 15.2. Gespräch im Anschluss
Mousonturm-Koproduktion
Organisierte Schülergruppen zahlen 5 Euro pro Person. Mehr Infos und verbindliche Anmeldung bis eine Woche vor der Veranstaltung unter dramaturgie@mousonturm.de.

Als Unterzeichner der Frankfurter Erklärung der Vielen lädt das Künstlerhaus Mousonturm zu „Die Kränkungen der Menschheit“ ein.

Beteiligte und Förderer

Choreografie, Text, Performance: Ariane Andereggen, Jean Chaize, Noah Donker, Kinan Hmeidan, Mario Lopes, Samuel Iatã da Silva Hölzl, Lara-Sophie Milagro, Benjamin Radjaipour, Vincent Redetzki, Sir Henry, Joana Tischkau, Else Tunemyr, Hayato Yamaguchi
Gong: Leon Frei
Inszenierung: Anta Helena Recke
Künstlerische Mitarbeit: Anna Froelicher, Maxi Menja Lehmann
Bühne: Carlo Siegfried
Kostüme: Pola Kardum
Musik: Luca Mortellaro
Lichtdesign & Technische Leitung: Joscha Eckert
Dramaturgie: Valerie Göhring
Regieassistenz: Lola Fonsèque
Regieassistenz Berlin: Chiara Galesi
Regiehospitanz: Leonore Henning
Produktion: Johanna J. Thomas, Olaf Nachtwey
Bühnenbildassistenz: Elena M. Stranghöner
Kostümassistenz: Nora Stocker
Recherche: Marja Christians, Chiara Galesi
Regie- und Kostümhospitanz: Leonore Henning

Eine Produktion von Anta Helena Recke mit den Münchner Kammerspielen. In Koproduktion mit dem dem Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt, HAU Hebbel am Ufer Berlin und Kampnagel Hamburg. Gefördert durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München und den Fonds Darstellende Künste. Gefördert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst im Rahmen der intergenerationalen Vermittlungsinitiative ALL IN - FÜR PUBLIKUM JEDEN ALTERS.

Mehr Informationen

In seinem Text „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“ stellt der Psychoanalytiker Sigmund Freud zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts drei Kränkungen des menschlichen Narzissmus fest: Die erste Kränkung geht auf Kopernikus zurück, der feststellte, dass die Sonne nicht wie angenommen um die Erde kreiste, sondern umgekehrt. Die zweite Kränkung führte Freud auf Darwins Evolutionstheorie zurück, die den Menschen in eine Reihe mit dem Affen stellte und so dem Tier näherbrachte. Die letzte Kränkung glaubte Freud selbst vollzogen zu haben, indem er feststellte, dass der Mensch ein Unbewusstes hat, das sich seiner Kontrolle entzieht. Diese Kränkungen brachten – und bringen für manche noch heute – bestehende Weltauffassungen ins Wanken. Sie rüttelten an der Vormachtstellung des Menschen, indem sie seine scheinbar natürliche Autorität und seine Kontrollfähigkeit gegenüber der Welt und sich selbst in Frage stellen.

Die Inszenierung „Die Kränkungen der Menschheit“ setzt mit einer Feststellung da an, wo Freuds Analyse aufhört: Freuds Vorstellung vom Menschen umschloss nicht die Gesamtheit aller Menschen, sondern unterlag einer ganz bestimmten Perspektive. Wer Menschheit sagte, meinte mehrheitlich das Konstrukt einer weißen, männlichen und europäischen Menschheit. In Europa hat dieser verheerende Denkfehler eine lange Tradition, die u.a. auch in der Rezeption von Darwins Evolutionstheorie eine Rolle spielte. Die vor Darwin in Europa populäre Theorie, dass die Menschen je nach Race (Ethnizität) unterschiedliche evolutionäre Abstammung hätten, wurde von Darwin widerlegt und erforderte für das imperiale Machtsystem neue Erklärungsmuster: Die historisch konstruierte Überlegenheit der weißen Menschheit mußte anders begründet werden als bisher. Publikumswirksame Ausstellungen wie die „Great Exhibition“ in London (1851) trugen maßgeblich dazu bei, Indigene, Schwarze, People of Colour und alle anderen nicht dem Abbild des weißen, gesunden Menschen entsprechenden Subjekte, als Beispiele für frühere Entwicklungsstadien der Spezies Mensch zu inszenieren. Die westliche Zivilisation sollte sich so als die modernste, fortschrittlichste und wissenschaftlichste Einheit manifestieren und sich von abweichenden kulturellen Entwicklungen als überlegen abgrenzen können.

„In der Tat wurden diese Menschen meist als die noch lebenden Beispiele der frühesten Stufe menschlicher Entwicklung präsentiert, als Punkt des Übergangs von Natur zu Kultur, vom Affen zum Menschen, die fehlende Verbindung, die notwendig ist, um diesen Übergang von Tier- zu Menschheitsgeschichte zu erklären. Indem ihnen eine eigene Geschichte abgesprochen wurde, war es das Schicksal der ‚primitiven Menschen‘, aus der menschlichen Geschichte ausgeschlossen zu werden, um ihr repräsentativ und unterstützend zu dienen – als Kontrapunkt die Rhetorik des Fortschritts zu unterstreichen, indem sie den Punkt darstellen, an dem die Menschheitsgeschichte aus der Natur hervorgeht, aber noch nicht richtig begonnen hat.“² Auch wenn solche Menschenschauen heute der Vergangenheit angehören, so hält sich die Vorstellung des weißen Menschen als Norm dennoch hartnäckig. Phänomene wie „Straight Pride“, das selbstbewusste Auftreten von „White Supremacy“ Gruppierungen und das globale Wiedererstarken faschistischer Kräfte, lassen erahnen, welche Abwehrmechanismen freigesetzt werden, wenn diese Norm angezweifelt wird.

Ausgehend von der Feststellung, dass sich die Vorstellungen von Menschheit in Bildern spiegeln – und umgekehrt Welt mit hervorbringen – begibt sich die Inszenierung „Die Kränkungen der Menschheit“ auf die Suche nach den ganz großen Bildern: das erste Bild der Erde, das die Menschheit in die Ferne rückt; die Evolutionsreihe, die den Homo Sapiens in eine Linie mit den Affen stellt; die unsichtbaren Bilder des Unbewussten. Für diese Suche entführt die Inszenierung das Publikum in das Museum einer fiktiven europäischen Hauptstadt. Neben dem Betrachten der Bilder, geht es hier um den Vorgang des Betrachtens selbst. Denn im Museum kann man nicht nur Bilder ansehen, sondern auch andere dabei beobachten, wie sie Bilder betrachten. Ein Museumsgrüppchen wird zu einer Mini-Gesellschaft, deren Figuren sich im Widerstreit mit anderen und sich selbst befinden.

Wie sich die Betrachtenden ins Verhältnis zu den Bildern setzen, ist Teil dieses Widerstreits. In der westlichen Kulturgeschichte wurde der Standpunkt der Betrachter*in im Bild selbst zum Thema. Die Einführung der Perspektive und des perspektivischen Zeichnens organisiert das Verhältnis von Bild und Betrachter*in nachdrücklich bis heute. Die Popularität der Zentralperspektive ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Bilder der Betrachter* in dienen sollen, indem sie ihr einen privilegierten Status einräumen: Alles im Bild geht vom Standpunkt der Betrachter* in aus. Verlässt man diesen Standpunkt und schaut sich um, finden sich viele andere Möglichkeiten, Mensch und Bild ins Verhältnis zu setzen. Die islamische Bildgeschichte beispielsweise bindet den Blick nicht an einen Körper und dessen Standpunkt. Vielmehr ordnet sie die Elemente des Bildes nach einer inneren Logik des Bildes. Sie verzichtet auf das Zentrum und braucht deshalb auch keinen Rand.

Text: Anna Froelicher, Maxi Menja Lehmann

 

² Bennet, Tony: „The Exhibitionary Complex“ (1988), Übersetzung des Zitats durch die Autorinnen dieses Texts