The Passengers

LIGNA

(c) Johannes Koether
Jemand hält eine Handy ins Bild, auf dem die Kamera gerade an ist und den unten liegenden Flughafen im Sucher hat.
(c) Ligna
An dieser Stelle ist ein externer Inhalt von www.youtube.com eingebunden. Durch das Ansehen des Inhalts hat der externe Anbieter Zugriff auf Ihre Daten. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

The Passengers

LIGNA

„The Passengers“ lädt das Publikum auf eine Reise ein: in das Labyrinth des Frankfurter Flughafens mit seinen unendlichen Verzweigungen in die Welt. Statt abzuheben folgen die Teilnehmer:innen mit dem Handy den Gängen fremder Personen. Per Messenger-Service melden sich diese aus Osaka, Curaçao, Varna, Porto Alegre, Jaounde und New York. Ihre Video-Botschaften führen die Teilnehmer:innen durch den Flughafen – so wie sich einst die Situationist:innen von fremden Stadtplänen leiten ließen. Andere Räume, neue Perspektiven, unsichtbare Vernetzungen und Assoziationen werden erfahrbar und stellen die Frage nach der Zukunft der Menschheit, des Verkehrs und einer globalen Solidarität.

Infos

Dauer: ca. 120 Min.
Sprache: Deutsch
Mousonturm-Koproduktion
Uraufführung

Start: Hauptbahnhof Frankfurt, vor der Bahn Comfort Lounge im ersten Stock der Bahnhofsvorhalle, auf der linken Seite zwischen Reisezentrum und Autovermietung.

Für die Performance werden Mobiltelefone ausgegeben. Eigene Kopfhörer können gerne mitgebracht werden. Für die Fahrt zum Flughafen ist ein RMV-Ticket für die Tarifzone 5090 vonnöten. Das Stück endet am Frankfurter Flughafen. Dort können die Handys zurückgegeben werden.

Jeweils zwei Tickets pro Slots alle 15 Minuten buchbar. Eein Ticket gilt für eine Person oder einen Haushalt

Während des Walks müssen mehrere längere Treppen genutzt werden, die nicht durch eine Aufzugfahrt ersetzt werden können.

Die Erfassung der Kontaktdaten zur vorgeschriebenen Nachverfolgung im Covid-19 Fall erfolgt am Veranstaltungsort.
Die allgemeinen Hygiene- und Abstandsregeln sind einzuhalten.
Das Tragen eines medizinischen Mund- und Nasenschutzes ist verpflichtend.
Ein tagesaktueller negativer Testnachweis wird empfohlen.

Beteiligte und Förderer

Produktion: LIGNA (Ole Frahm, Michael Hueners, Torsten Michaelsen)
Mit Aufnahmen von AVANT-SCENE(Jaounde, Kamerun), Lara Domke (Frankfurt), Leonie Weber (New York, USA), Omar Kuwas (Willemsburg, Curacao), Stephan Shtereff (Varna, Bulgarien), Tara Burke (Porto Alegre, Brasilien), Tsuyoshi Ishihara (Osaka, Japan)
Stimmen: Lara Domke, Mareike Hein, Sarah Claire Wray, Harvey Friedman, Matthias Kelle, Lennart Preining, Ingo Tomi
Programmierung: DCP

Ein Projekt von LIGNA, in Koproduktion mit Künstlerhaus Mousonturm. Mit freundlicher Unterstützung der Fraport AG. Gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, durch das Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main und das Land Hessen – Ministerium für Wissenschaft und Kunst.

Mehr Informationen

LIGNA: Flughafen-Alphabet

 

Ähnlichkeit. Ähnlichkeit verbindet Nicht-Orte wie den Flughafen. Diese Verbindung wird oft als Gleichheit oder sogar Identität verstanden und als Gleichförmigkeit abgewertet. Aber Ähnlichkeit bedeutet das Zugleich von Übereinstimmung und Differenz. Sie eröffnet eine besondere, spannungsreiche Beziehung: Der Flughafen tritt aufgrund der Ähnlichkeit in eine differentielle Relation zu allen anderen Flughäfen. Diese Ähnlichkeit überschreitet die Grenzen des Nationalen, sie bildet ein Netz, das sich über die Welt spannt (Güttler, 107ff.). Die Flughäfen als Embleme nationaler Konkurrenz und kolonialistischer Raumherrschaft favorisieren hinsichtlich ihrer Architektur eine internationalistische Perspektive.

Die Befreiung der Flughäfen von ihrer Identität, von ihrer Geschichte gelingt nie vollständig und darf, wie der Frankfurter Flughafen mit seiner Geschichte von Zwangsarbeit (siehe Moderne) und Protesten (siehe Wald) lehrt, nicht gelingen, doch zugleich gibt das Ähnlichkeitsverhältnis der Flughäfen miteinander die Perspektive einer planetarischen Gesellschaft.

 

Außen. Das Außen bleibt immer hinter Glas. Der Flughafen braucht kein Außen, in gewisser Weise verweigert er das Außen. Die Flughäfen mit ihren Sky Malls bilden ein riesiges, weltweites postmodernes Gebäude, wie abgelöst von ihrer Umgebung. Der Weg in den Flughafen führt vom Innen des Autos oder der S-Bahn durch Gänge zum Innen des Terminals und von dort durch Röhren direkt ins Flugzeug. Es sind Konferenzcenter an Flughäfen, wie in Frankfurt das Frankfurt Airport Center, entstanden, die den Teilnehmenden erlauben, den Flughafen gar nicht mehr zu verlassen.

Der Flughafen bildet ein Interieur, eine Innenwelt, ein Traumhaus. Das Außen, das ist die Stadt, über die das Flugzeug fliegt. Das Außen ist auch der Wald. Sie sind als Zitate („Food Plaza“) und Bilder präsent und gleichzeitig ausgeschlossen. Das ist Teil der Sicherheit, die der Flughafen verspricht: Jedes Außen, das eine gewisse Verunsicherung bedeutet, wird kontrollierbar gemacht. Zugleich aber wird damit eine andere Verunsicherung überdeckt: Denn das Innen ist – als Montage unterschiedlicher Räume – selber instabil und droht auseinanderzufallen und so die Kohärenz des modernen Subjekts zu bedrohen (siehe Katastrophe).

 

Bau. Die Baugeschichte des Frankfurter Flughafens ist kaum mehr lesbar. Die Großraumdisco, das Dorian Gray wurde erst durch einen Supermarkt und dieser nun durch einen Betonpfeiler ersetzt. Das ehemals großzügige Entree ist durch Hotelbauten und Parkhäuser verstellt. Im Nicht-Ort wird auch die Baugeschichte verleugnet. Schicht lagert sich über Schicht und muss, wie ein Palimpsest, gelesen werden. Das Labyrinth wird ständig erweitert, das im Bau befindliche Terminal 3 wird mit Building the Future beworben.

 

Entortung. Das Fliegen stand von Beginn an für eine neue Wahrnehmung des Raums, seine Dezentrierung. Carl Schmitt plagte lange, so Christoph Asendorf, eine pathologische Angst vor der „Entortung“. Die Flughafenarchitektur, in der ‚ein Ort wie der andere auszusehen scheint’, nimmt die Entortung durch das Fliegen auf. „Orte verlieren ihren topischen Charakter“ (342). Mit The Passengers behaupten wir im Gegenteil, dass Orte erst in der Entortung erfahrbar werden: als Konstellation von Orten, als Konstellation unsichtbarer Verbindungen und Machtbeziehungen, die den Ort konstituieren, normalerweise aber unsichtbar sind. Wir bewegen uns durch den Flughafen wie im Traum, in dem sich die Orte überlagern und zerstreute Jetztzeiten in eine Konstellation treten. Kein Ort ist nur ein Ort.

 

Identität. Der Flughafen identifiziert die Individuen als Subjekte, um unter anderem zu entscheiden, wer ein Land betreten darf und wer nicht. Der eigenschaftslose Raum produziert Identität wie kaum ein anderer – und gefährdet sie bis zum

 

Identitätsverlust. Das gilt vor allem, aber nicht nur, für die männliche Subjektivität. Der Fall Lars Mittank in Varna hat Anlass zu den verschiedensten Spekulationen gegeben, auch weil es viele Ungereimtheiten gibt. Fest steht, dass der Arbeiter in einem Kohlekraftwerk auf seiner ersten Pauschalreise nach Varna mit einem Mal seine Tasche, seine Papiere am Flughafen liegengelassen hat und fortgerannt ist – und seitdem nicht wieder gesehen wurde. Es gibt wie in jedem guten Detektivfall viele Spuren, die in viele Richtungen weisen. Ist er vor jemanden geflohen? Hatte er Drogen genommen? Bildete er sich ein, verfolgt zu werden oder wurde er tatsächlich verfolgt? Das alles lässt sich nicht klären. Erscheint Lars Mittank als individueller Passenger, der im Plural für die Menschheit unserer Tage stehen könnte, indem er das Versprechen, das vom Flughafen ausgeht – alles hinter sich zu lassen – auf radikale Form ernst genommen hat?

 

Katastrophe. Der Flughafen ist ein Ort, an dem die Katastrophe omnipräsent ist – in Form der Sicherheitsvorkehrungen, die uns beständig an die Gefahr des Fliegens erinnern. Diese Gefahr ist zwar nicht besonders real (die Zahl der Flugzeugabstürze ist gering) aber sie ist total: Sollte es zu einem Absturz kommen, gibt es so gut wie keine Überlebenschance. In einem Flugzeug Platz zu nehmen bedeutet, sich in einen Zwischenbereich zwischen Leben und Tod zu begeben. Man ist – anders als beim Zug oder dem Auto – nicht mehr auf der Erde, sondern in einem Nicht-Ort über den Wolken, wo man ohne maschinelle Unterstützung nicht eine Sekunde überleben könnte. Für W.G. Sebald klingen die Stimmen, die die Passagiere zu den Gates rufen wie die von Engeln (Ringe des Saturn), Michel Serres vergleicht gar Flugzeuge selbst mit Engeln (Legende der Engel). Die Bedrohung nicht nur durch den Tod, sondern die Zerstückelung des eigenen Körpers muss durch ein Übermaß an Unterhaltung, Konsummöglichkeiten und eine sedierende Atmosphäre kompensiert werden. Zu Corona-Zeiten waren die meisten dieser beruhigenden Angebote geschlossen, selbst der Zugang zu einfachen Sitzgelegenheiten ist reglementiert. So zeigte sich eine unbekannte Widersprüchlichkeit, eine versehrte Oberfläche. Im Aufbrechen der makellosen Einheitlichkeit des Ortes, das sich in der Pandemie andeutete, meinen wir erkennen zu können, wie das Symbol des Fortschritts zerbrechen könnte. In dem Moment, in dem der Ort seinen Hauptzweck nur noch sehr eingeschränkt erfüllen kann – Leute in alle Welt zu schicken – wird er selbst zum Ort, an dem sich erkennen lässt, wie sich Trümmer auf Trümmer häuft: Er empfängt Katastrophen von überall her, wird vielleicht zur Allegorie für die Unmöglichkeit der Fortführung der Mobilität, für die er steht.

 

Kautschuk. 110 Tonnen Gummi werden jährlich von den Rollbahnen des Frankfurter Flughafens abgetragen. Etwas weniger als ein Drittel von dem Kautschuk, das vom Deutschen Reich 1890 importiert wurde. Acht Liter konnten damals von erfahrenen Gummisuchern am Tag gewonnen werden, zehn Liter ergeben 3 ½ Kilo versandtrockenen Gummi, das entspricht 15 Bäumen. Eine Tonne Gummi entspricht 4285 Bäumen, der Gummiabrieb am Flughafen somit 471 350 Bäumen. Auch wenn viele Deutsche ihre Plantagen nach deren Verlust nach dem 1. Weltkrieg auf einer Auktion 1924 in London wieder aufkauften, war der Rohstoff im 2. Weltkrieg doch so knapp, dass künstlicher Kautschuk ab 1935 im Buna-Werk in Schkopau produziert wurde. Doch auch das reichte nicht und in der Nähe des Konzentrationslagers Auschwitz wurden Buna-Werke gebaut, in denen Häftlinge wie Primo Levi arbeiteten. Buna war das erste von einem privaten Industrieunternehmen geplante und finanzierte Konzentrationslager Auschwitz III Monowitz, das ausschließlich für Zwangsarbeiter vorgesehen war. Für den Bau der Rollbahn in Frankfurt im Herbst 1944 forderte das deutsche Bauunternehmen Züblin Frauen aus Auschwitz an. Sie wurden in Baracken in der Nähe des Dorfes Walldorf untergebracht – die Bedingungen dort waren sehr ähnlich wie in Buna – Unterernährung, mangelnde Kleidung, prügelnde Kapos, endlos lange Arbeitstage. Das leitende Prinzip war „Vernichtung durch Arbeit“. Dies macht eine Differenz zur Kautschukernte aus, für die erfahrene Kautschuk-Sammler gesucht waren.

Kerosin. Eine der Voraussetzungen des internationalen Flugverkehrs ist die Globalisierung des Kerosins, das überall auf der Erde in „ähnlich hochwertiger Qualität zur Verfügung“ stehen muss (Armbruster). Früher warteten die Tanker auf die Telegramme mit den Bestellungen, die immer nur kurz zuvor bekannt waren. In Rotterdam wurde umgeladen, Tankschiffe fuhren Rhein und Main hinauf. Der Preis dieser Einheitlichkeit, durch welche die Triebwerke verbrauchsgünstiger arbeiten können, ist die fehlende Steuer auf das Kerosin. Die Fluggesellschaften würden ein Land mit höheren Preisen meiden. Deshalb nur rechnen sich Modelle wie Ryan Air, die ihre Flugzeuge mit möglichst kurzen Pausen ständig in der Luft halten. Der Preis der fossilen Energie entspricht nicht dem, was sie an Ressourcen des Planeten verzehrt.

 

Kerosin, Asphalt. Abfallprodukt der Kerosinherstellung ist Asphalt. Da es sich für die Raffinerie „La Isla“ im Herzen Curacaos in der Kriegszeit vor allem lohnte, reines Kerosin herzustellen, wurde der Asphalt in einen See direkt neben der Anlage gepumpt – ungefähr 1,5 Millionen Liter. Der Eigner der Raffinerie, die niederländische Shell AG, verkaufte den Betrieb 1985 für ein paar Gulden an die Inselregierung und ließ sich vertraglich zusichern, für die Spätfolgen dieser immensen Umweltverschmutzung, dem materiellen kolonialen Erbe, nicht mehr belangt werden zu können. Der Asphalt-See liegt noch heute im Herzen der beliebten Urlaubsinsel.

 

Kollektivität. Flughäfen vereinzeln. Durch Corona wurde die Vereinzelung noch forciert durch die notwendige Distanz. Kollektive Praxis existiert nur virtuell. Doch diese Vereinzelung ist produziert und diese Produktion muss ebenso sichtbar gemacht werden wie das abwesende Kollektiv, das sich über den ganzen Planeten verteilt.

 

Krieg. Mit der Kontrolle der Luft geht der Krieg um diese Kontrolle einher. Aber dieser Kampf wurde keineswegs immer in der Luft geführt. 1942 haben die Deutschen zweimal U-Boote über den Atlantik in die Karibik geschickt, wo diese völlig unerwartet auftauchten. Sie sollten den Nachschub vom Kerosin für die Alliierten unterbrechen: der Befehl lautete die Raffinerie auf Curacao zu beschießen. Die Raffinerie produzierte 11 Millionen Barell im Monat, es war zu der Zeit die größte der Welt. „The destruction of the refinery would equal the sinking of dozens of tankers“ (Kelshall, 30). Doch die Küstenwache konnte den Angriff aufhalten, der fünf Petroleumtanks in die Luft jagte. Diese unterseeische Verbindung zwischen Curacao und Deutschland setzt sich im Kerosinhandel nach dem Krieg überseeisch fort (vgl. Güttler).

 

Landebahn. Für die Erweiterung der Landebahn des Flughafens Porto Alegre wurden über 1500 Familien aus dem Viertel Vila Nazaré umgesiedelt. Fraport, zu dessen Portfolio der Flughafen gehört, behauptet, die Siedlung sei illegal, da sie sich in der Flugsicherheitszone befinde. Bürgerinitiativen wie „Am Boden bleiben“ und „Kritische Aktionäre“ stellen fest, dass diese Begründung, die unter anderem bei den Aktionärsversammlungen in Frankfurt vorgetragen wurde, das Brasilianische Gewohnheitsrecht ignoriert, das solche Siedlungen nach einer dort längst erreichten Zeit legalisiert. Doch der ökonomische Druck, Porto Alegre per Cargo an die Weltwirtschaft anzuschließen, war groß genug, dass dies ignoriert werden konnte.

 

Logo. Das Logo von Fraport soll ein Terminal zeigen – oder einen Stern. Die Flughäfen sind Sterne, die mit bestimmten anderen Sternen verbunden sind. Nach Yaounde gibt es von Frankfurt keine direkte Verbindung, nach Windhuk schon. Nach Curacao gab es bis vor kurzem eine direkte Verbindung. The Passengers machen sich auf, solche Konstellationen zu lesen. In dem Logo lässt sich auch die Erschließung durch strahlenfömig vom Lager in das Gelände gehauene Schneisen wiedererkennen wie sie der Kolonist Erich Robert Petersen beschrieb (siehe Wald).

 

Nachhaltigkeit. Die Firma Halcyon Agri mit Sitz in Singapur und über die Welt verstreuten Tochterfirmen – u.a. Sudcam in Kamerun – hat dort auf dubiose Weise 45.000 Hektar Urwald zugesprochen bekommen, den sie für eine Kautschuk-Plantage roden wollen (siehe Kautschuk) – laut Greenpeace „die verheerendste neue Abholzung von Wald für die industrielle Landwirtschaft im Kongobecken“, einem der größten Regenwaldgebiete der Welt. Die Firma aber wirbt damit, dass etwas für den CO2- Haushalt der Erde getan werde – denn schließlich binden ja auch Kautschuk-Bäume Treibhausgase. Finanziert wird die Vernichtung des Regenwaldes auch durch ein „innovatives neues Darlehen“ der Deutschen Bank, die damit ihrem selbst gesetzten Ziel ein Stück näherkommen will, bis 2025 200 Milliarden Euro in „nachhaltiges Investment“ zu stecken.

 

Moderne. Jeder Nicht-Ort wie der Frankfurter Flughafen ist ein Ort mit Geschichte. Die erste Beton-Rollbahn des Frankfurter Flughafens ist von KZ-Häftlingen, jüdischen Frauen aus Ungarn, Bulgarien, Serbien, Rumänien, der Ukraine und weiteren Ländern gebaut worden. Das Flugzeug, die Luftwaffe waren zentrale Ideologeme des Nationalsozialismus. Seine nationale Moderne schreibt das Prinzip der nationalen Luftfahrtgesellschaft fort und militarisiert es – nachdem den Deutschen in den ersten Jahren nach dem 1. Weltkrieg die Entwicklung der Luftfahrt untersagt war. Die Lufthansa entwickelte sich dann auch aufgrund der zentraleuropäischen Lage schnell zu einer der wichtigsten zivilen Fluggesellschaften. Hitler führt seinen Wahlkampf mit dem Flugzeug, die Entwicklung der Luftwaffe wird eines der zentralen Projekte des Nationalsozialismus nach 1933. Das Bauen einer Betonpiste nach fast fünf Jahren Krieg findet ganz im Sinne dieser Modernisierung statt, die darin gipfelt, im Angesicht der Niederlage noch eine Rollbahn von entkräfteten Häftlingen für einen Düsenjet bauen zu lassen, der nie starten würde.

 

Öffentlichkeit. Der Flughafen ist nach Martha Rosler nicht „als bedeutungsgebender Ort organisiert, der eine Öffentlichkeit erschließt“ – und tatsächlich muss der Flughafen für sein Funktionieren seine Bedeutung verschleiern, er muss als reiner Transitraum erscheinen, als notwendiges Übel, das nicht weiter wichtig ist, um den enormen Verbrauch an Ressourcen nicht zu einem Politikum werden zu lassen. Wie lässt sich diese Öffentlichkeit herstellen?

 

Ortsreise. Wir laden nicht zu einer Reise im Raum sondern am Ort ein. Die Orte sind generisch, sie wurden nach gleichen Mustern erzeugt. Das Generische erlaubt erst diese Reise, die damit auch eine Reflexion der Identität des Ortes vornimmt. Sie droht – oder verspricht? – verlorenzugehen. Auf alle Fälle ermöglicht das Generische den Identitätswechsel. „Identity centralizes“, schreibt Rem Kolhaas, das Generische ist dezentral. „There are no fragments where there is no whole“, kommentiert Rosler. Aber stimmt das? Ist der Flughafen kein Teil eines Ganzen mehr oder schafft das Generische nicht nur ein anderes Ganzes, ein womöglich sich replizierendes und gerade darin einen anderen kollektiven Raum eröffnend, der durchaus fragmentiert, aber verbunden ist in einem Netz von Ähnlichkeiten?

 

Schneise. Die Gummiernte basiert darauf, dass Schneisen in den Wald geschlagen werden. Der deutsche Kolonist Erich Robert Petersen schreibt 1938 rückschauend auf ‚seine’ Arbeit 1913: „Damit der Gummibusch erschlossen wird und abgeerntet werden kann, treibe ich vom Lager aus strahlenförmig nach acht Richtungen Schneisen vor. Die Sümpfe werden durch leichte Laufstege überbrückt, damit die Gummisucher sie rasch passieren können. In einiger Entfernung vom Lager werden die Schneisen durch Querwege miteinander verbunden. So entsteht ein ganzes Netz von Richtwegen, das eine genaue Durchsuchung des Urwalds ermöglicht.“ Ein Konzept, das aufgeht: „Die Gummiernte ist reich, die Zahl der Schneisen wächst.“ Ein durchgängiges Motiv ist die Durchdringung der Welt, ihre Erschließung, um sie auszubeuten oder gangbar und fahrbar zu machen. Paul Virilio versteht die Moderne als eine solche Bewegung, in der die „Einzelheiten des umgebenden Raums nicht mehr beachtet“ werden, es gehe einzig darum die menschliche Aktivität, „ihre Bildschirme, ihre Skalen, die Steuerung ihrer interaktiven Bahn zu überwachen“. Lässt sich diese Beschleunigung der Schneise anders erfahrbar machen, um auf Virilios Frage „Wo bin ich, wenn ich überall bin?“ mit einem ‚hier’ zu antworten, an einem Ort, der eine Konstellation vieler Orte ist?

 

Tower. Der Tower ist nicht dem Leuchtturm entlehnt, den die Flughäfen in ihrer Frühzeit brauchten, sondern vor allem der Benthamschen Gefängnisarchitektur, bei der alle Zellen von einem zentralen Blickpunkt aus überwacht werden können. Alastair Gordon findet es bezeichnend, dass einige Architekten Flughäfen und Gefängnisse entworfen haben. Die Logik sei ähnlich: „Both inmates and passengers moved through a similar series of sealed passageways, automatic doors and narrow checkpoints.“ (238)

 

Verletzlichkeit. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie verletztlich das globale „mobility regime“ ist. Die Welt, so heißt es nun manchmal, ist wieder größer geworden, nachdem sie ein Jahrhundert lang, wie Rudyard Kipling voraussah, accessible war. Wenn die Flughäfen einfach nicht mehr da wären, was hieße das? Als müssten sie gegen die eigene Verletzlichkeit verteidigt werden, werden die Flughäfen überwacht und zu Festungen ausgebaut (siehe Tower).

 

Wald. Ein Außen des Frankfurter Flughafens ist der Wald. In ihm sind die Auseinander­setzun­gen um die Startbahn West lebendig. Aber er ist nur ein grüner Streifen am Horizont. Ein Zaun trennt das Gelände des Flughafens, seine Betonpisten, von dem Wald mit seinem Waldboden. Die Gewalt der Schneise, welche die Startbahn West in den Wald geschlagen hat, ist noch spürbar. Der Widerstand hat sich zwar verstetigt, aber konnte das Projekt des ständigen Wachstums nicht aufhalten, nicht einmal unterbrechen – nur für kurze Zeit verlangsamen. Welche Energien und Kräfte aufgewendet werden müssen, um auch nur Weniges nicht geschehen zu lassen, das die Zerstörung der Erde forciert, lässt uns ratlos zurück. Die auf „Entwicklung“ beharrenden Kräfte scheinen immer besser organisiert, institutioneller und darin mächtiger. Während zwar in der Bürgerinitiative Menschen ihr ganzes Leben der Aufgabe gewidmet haben, dieser „Entwicklung“ eine andere Möglichkeit entgegenzuhalten, hat ihr berechtigter Wunsch seit den Morden an den beiden Polizisten 1987 bei den Protesten gegen den Flughafenausbau nie wieder eine breitere Unterstützung erhalten. Die Stadt Frankfurt und das Land Hessen haben den Aufschwung des Flughafens in der internationalen und europäischen Konkurrenz nie in Frage gestellt.

 

Zeit. Guy Debord zufolge ist es die große Leistung der Gesellschaft des Spektakels, ihre Subjekte in einer „pseudozyklischen Zeit“ leben zu lassen, die sich als eine Art Phantasma vor die moderne irreversible Zeit der Produktion schiebt und die Menschen mit allerhand Annehmlichkeiten ruhigstellt: Verlässlicher Alltag, periodisch wiederkehrende Ferien und Einkünfte, erträgliche Lebensbedingungen. Dieser Schutzschirm (der beizeiten auch als Langeweile empfunden wurde) ist in den letzten neoliberalen Jahrzehnten zusehends löchrig geworden: Wie zu Zeiten der vorfordistischen kapitalistischen Akkumulation sind die Arbeitskräfte wieder verstärkt der „irreversiblen Zeit der Produktion“ ausgeliefert, die ihnen den Boden unter den Füßen wegzieht. Der kritische Diskurs nennt das Prekarisierung, der affirmative hingegen Dynamisierung. Was sich nicht geändert hat: Wie die pseudozyklische wird auch die irreversible Zeit in vollkommener Passivität erfahren. Beide erscheinen als unabänderliche zweite Natur, die nicht umgewälzt werden kann. In allen historischen Epochen des Kapitalismus, auch im dynamischen Neoliberalismus, erscheint die Zeit den Produzent:innen als stillgestellt, verräumlicht, ihr Gebrauch ist unmöglich. Die Auswege aus der neuerdings wieder bedrohlichen Lage sind deshalb individuell: Vorsorge, Abgrenzung gegen die, die von unten nachzurücken drohen, Inszenierung der individuellen Einzigartigkeit, z.B. durch extravagante Urlaubsziele. Die politische Forderung, die Debord aus der Kritik der Gesellschaft des Spektakels ableitet, wäre demgegenüber weiterhin: Die irreversible Zeit zur Lebenszeit werden zu lassen, sie sich aktiv anzueignen, indem der „gleiche Tag“ der Produktion aufgegeben wird zugunsten „verbündeter unabhängiger Zeiten“ – und somit die „gesellschaftliche Organisation der Lähmung von Geschichte und Gedächtnis“ zu überwinden. Aber wie? Ein solches Bündnis herzustellen könnte die kritische Praxis des gleichzeitigen globalen Dérives sein. Er lädt zum einen zum Spiel verbündeter unabhängiger Zeiten ein. Zum anderen macht er den Flughafen zum Ort der Artikulation einer „Vergangenheit, die nirgendwo aufbewahrt ist“, – und einer Gegenwart, die droht, nirgendwo aufbewahrt zu werden.

 

Verweise

Jürgen Armbruster: Flugverkehr und Umwelt. Wieviel Mobilität tut uns gut? Heidelberg 1996.

Christoph Asendorf: Super Constellation. Flugzeug und Raumrevolution. New York, Wien 1997.

Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt 1994.

Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1995.

Alastair Gordon: Naked Airport. Chicago 2004.

Nils Güttler: Alles über das Fliegen. Zur politischen Wissensgeschichte des Frankfurter Flughafens. Wien 2020.

Gaylord T. M. Kelshall: The U-Boat War in the Carribean. Shrewsbury 1994.

Rem Koolhaas: Generic City. New York 1995.

Lilia Mironov: Airport Aura. Zürich 2020.

Erich Robert Petersen: Im Herzen Kameruns. Leipzig 1939.

Martha Rosler: In Place of the Public: Observations of a Frequent Flyer. Frankfurt am Main 1998.

  1. G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Frankfurt 1995.

Michel Serres: Die Legende der Engel. Frankfurt / Leipzig 1993.

Paul Virilio: Rasender Stillstand. München 1992.