AH|HA

Lisbeth Gruwez/Voetvolk

(c) Luc Depreitere
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AH|HA

Lisbeth Gruwez/Voetvolk

Zähnefletschen und Zwerchfellzucken, ein zu Tränen treibender Tremor: Lachen ist ein den ganzen Körper ergreifendes, beinahe gewaltsames Geschehen. Lisbeth Gruwez seziert in AH|HA den unwillkürlichen Reflex und zerlegt den  erschütternden Akt in seine bewegenden Einzelteile. Montiert zu einem dem Rave verwandten, monotonen Rauschen  kreiert die Choreografin einen tänzerischen Trip, eine Erkundung von Ekstase. AH|HA ist eine befremdliche Abstraktion für fünf bizarr gekleidete Typen, die nahezu willenlos von einem Zustand in den nächsten gleiten. Zum suggestiven Soundtrack von Maarten Van Cauwenberghe entsteht eine Verhaltensstudie menschlicher Affekte, Anarchie definiert  durch absolute Kontrolle. AH|HA ist das erste Gruppenstück, das Lisbeth Gruwez und Maarten Van Cauwenberghe 2014 für ihre Kompanie Voetvolk entwickelt haben.

Infos zum Stück auch hier: www.tanzfestivalrheinmain.de

Infos

Dauer: 55 Min.

Beteiligte und Förderer

Konzept, Choreografie: Lisbeth Gruwez
Komposition, Sound Design: Maarten Van Cauwenberghe
Mit: Colline Libon, Anne-Charlotte Bisoux, Lisbeth Gruwez, Vicente Arlandis Recuerda, Lucius Romeo-Fromm
Stylist: Catherine Van Bree
Künstlerische Beratung: Bart Meuleman
Lichtdesign: Harry Cole & Caroline Mathieu
Technische Leitung: Thomas Glorieux / Caroline  Mathieu
Produktionsleitung: Anita Boels
Kommunikation: Daan Borloo
Produktion: Voetvolk vzw
Internationaler Vertrieb: Key Performance

AH|HA I Produktion: Voetvoelk vzw. Koproduktion: Rencontres chorégraphiques internationales de Seine-Saint-Denis, Next Festival, Theater im Pumpenhaus, Théâtre d’Arras / Tandem Arras-Douai, Dampfzentrale, Le Triangle – Cité de la danse de Rennes, Théâtre La Bastille, Les Brigittines, AndWhatBeside(s)Death, MA scène nationale – Pays de Montbéliard, Troubleyn| Jan Fabre. Gefördert durch: NONA, die Flämische Gemeinschaft / the Flemish Community, Provinz Antwerpen / Province of Antwerp, Arcadi Île-de-France / Dispositif d’accompagnements. AH|HA ist eine Veranstaltung im Rahmen der Tanzplattform Rhein-Main. Die Tanzplattform Rhein-Main, ein Projekt von Künstlerhaus  Mousonturm und Hessischem Staatsballett, wird ermöglicht durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain und gefördert vom Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main, dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst und der Stiftungsallianz [Aventis Foundation, BHF BANK Stiftung, Crespo Foundation, Dr. Marschner-Stiftung,  Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main].

Mehr Informationen

Die Tanzschürferin

von Melanie Suchy

Untertage. Bei Lisbeth Gruwez hat man oft den Eindruck, sie habe den Tanz der Dunkelheit abgerungen. Es geht der Künstlerin darum, wie etwas in Erscheinung tritt, in Erscheinung geholt wird: geschürft, gekratzt, gebogen, gehämmert, gedrückt, gezogen. Und manchmal ist es das Gegenteil: das Nichtstun, das Aufhören oder nur das Abwarten, was das Sichtbarwerden bedeutet. Damit Zuschauerinnen und Zuschauer dies wahrnehmen, braucht sie von ihnen eine bestimmte Aufmerksamkeit, das ist Teil ihrer Schürfarbeit.

Gruwez’ Kunst spricht nie von oben herab, eben darin ist sie groß. Die Choreografin trägt nie eine besserwisserische Haltung vor sich her, sondern hält sich auf berührende Weise das Fragen offen, auch indem ihre Stücke zugleich vehement und zart sind. Zehn Werke hat Lisbeth Gruwez geschaffen, seit sie 2007 freiberuflich zu arbeiten begann. Dafür gründete sie mit ihrem Arbeitspartner, dem Musiker Maarten Van Cauwenberghe, das Label Voetvolk. Mehrere Stücke halten sie im Repertoire; ihre Auftritte sind weltweit gefragt.

Lisbeth Gruwez, die außerhalb der Bühne kleiner wirkt als vor Publikum, wurde 1977 im belgischen Kortrijk geboren. Mit sechs Jahren begann sie, klassisches Ballett zu lernen, ließ sich in Antwerpen ausbilden, wechselte nach dem Abschluss auf Anne Teresa De Keersmaekers Schule P. A. R. T. S. in Brüssel, um Zeitgenössischen Tanz zu studieren. Sie tanzte in Flandern bei Choreografen wie Wim Vandekeybus und ab 1999 bei Jan Fabre, der auch ein Solo für sie schuf; es führte die Mann- Frau-Zuschreibung aufs glitschige Gelände, mit Olivenöl getränkt. An Fabres Theater Troubleyn / Laboratorium in Antwerpen sind Voetvolk bis heute Artists in Residence. Im Mousonturm gastierten sie zum ersten Mal 2011 mit „Birth of Prey“ von 2008, wo ein ruppiger Gitarrensound die Tänzerin jagte und diese „Beute“ das Aufbegehren so wenig aufzugeben bereit war wie den Lebenswillen. Dies als Grundlage fürs Tanzen zu verstehen, die Begegnung von Klang und Körper sowie die Auseinandersetzung um Kontrolle, um Macht – das macht seither die Arbeiten von Gruwez und Van Cauwenberghe aus, egal ob im Solo oder im Ensemblestück.

Die beiden gehen dem Warum von Bewegung auf den Grund. Die Zuschauerinnen und Zuschauer können dieses Auf-den-Grund-Gehen derweil mit eigenen physischen Erfahrungen verknüpfen und brauchen kein Vorwissen über Tanz- Codes – das ist Gruwez’ erklärtes Ziel. Dafür recherchiert die Choreografin Gesten- und Verhaltensrepertoires, zum Beispiel unter fanatischen Predigern wie dem amerikanischen Reverend, dem sie mit „It’s going to get worse and worse and worse, my friend“ ihre kritische Referenz mit messerscharfen Armausschlägen erweist. Das Stück war vergangenen Juni im Mousonturm zu sehen. In dem Quintett „AH|HA“ von 2014 knetet sie Jubeln, Lachen, Freuen durch, bis die gereckten Fäuste und offenen Münder ein Grauen durchscheinen lassen. Man meint plötzlich, Masken zu entdecken und versucht, diese Lücke zwischen Fleisch und außen getragener Hülle zu ergründen.

Im Duett „We’re pretty fuckin’ far from okay“ von 2015 hechelt der Atem wie ein eigenwilliges Lebewesen. Die Tänzerin und der Tänzer sind ihm ausgeliefert, aber gleichzeitig pumpen sie auch selbst. Sie streichen und reiben an der eigenen Haut und am anderen, wie, um sich nicht zu verlieren. Und doch wäre dieser Verlust auch Gewinn: nicht mehr selbst sein zu müssen vor lauter Angst, „far from okay“.

All diese Elemente und das gelöstere Anschmiegen und Umarmtwerden von der Musik, das „Lisbeth Gruwez tanzt Bob Dylan“ 2015 vollführt, die Unmöglichkeit des Verschmelzens dabei eben nicht verleugnend, all das geht 2018 in ihr jüngstes Gruppenwerk ein: „The Sea Within“. Zum ersten Mal steht die Choreografin dabei nicht mit auf der Bühne, stattdessen bildet eine Gruppe Tänzerinnen eine Art organisches System aus Reaktionen, mit Wogen, Fallen, Auffangen, Zerfallen, Verbiegen, Einigen. Sie treiben. Das langsame Fließen oder Schweben schmeichelt, gerät zum scheinbaren Chaos. Aber der Pulk kann es wiederholen: Arme, Beine, Köpfe. Diese Höhlenbewohnerinnen finden ihr Lebenselixier in der „inneren See“. Sie hauen nicht. Obwohl – ist dem Frieden zu trauen? Den Kopf in den Sand, das Meer, zu stecken?