Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn

Rimini Protokoll (Haug) & Helgard Haug

Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn

Rimini Protokoll (Haug) & Helgard Haug

“Please don’t take offense, it’s just Tourette”, is what Christian Hempel is quick to clarify from the onset, when he’s among people. He cannot control his rants, insults and motor tics. They are reactions to the world around him. The Tourette syndrome seeks attention. It craves confrontation and commotion. At first glance, it would seem impossible to create a theatre piece with Tourette: no text is safe; no movement can be repeated. Stage equipment has to be secured, special hotel rooms booked. In Rimini Protokoll’s new production, Christian Hempel steps onto the stage for the first time, together with musician and geriatric nurse Benjamin Jürgens and politician Bijan Kaffenberger. They also have Tourette. Collectively with musician Barbara Morgenstern, they put theatre to the test: to what degree can theatre tolerate an absence of intent? How much protection can theatre offer? And after the applause is over, it may become clear that this piece isn’t really about Tourette. It is actually about the audience, about theatre and about the fear of losing control.

Infos

For those who need more space of movement,
extra reserved comfort seats are available via regular presale. All tics are welcome. Information on the accessibility of the
performances under: chinchilla@mousonturm.de.

Duration: ca. 100 min.
A production by Künstlerhaus Mousonturm, Schauspiel Frankfurt and Rimini Protokoll

Sponsors and Supporters

With: Christian Hempel, Benjamin Jürgens, Bijan Kaffenberger, Barbara Morgenstern,
Stefan Schliephake
Concept, text & direction: Helgard Haug
Composition & music: Barbara Morgenstern
Stage: Mascha Mazur
Video: Marc Jungreithmeier
Dramaturgy: Cornelius Puschke
Dramaturgy Künstlerhaus Mousonturm: Anna Wagner
Research & artistic collaboration: Meret Kiderlen: Meret Kiderlen
Production management Künstlerhaus Mousonturm: Olivia Ebert
Production management Rimini Protokoll / Touring: Juliane Männel
Stage assistance: Marius Baumgartner,
Loriana Casagrande
Production assistance: Desislava Tsoneva
Stage management: Alexander Frank
Performing rights: schaefersphilippen Theater und Medien GbR
Music rights: maobeat musikverlag

A production by Künstlerhaus Mousonturm, Schauspiel Frankfurt and Rimini Protokoll.In co-production with Westdeutscher Rundfunk and HAU Hebbel am Ufer Berlin.Funded by the Federal Government Commissioner for Culture and the Media as part of the Alliance of International Production Houses, by Kulturfonds Frankfurt RheinMain in the frame of “Erzählung.Macht.Identität” and by Adolf and Luisa Haeuser-Foundation for Art and Cultural Heritage in the frame of the series UNLIMITED II.

More Information

"Der wunde Punkt"

von Thilo Guschas

Helgard Haug von Rimini Protokoll inszeniert im Bockenheimer Depot mit „Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn“ einen Theaterabend über das Tourette-Syndrom und die Grenzen des Sagbaren. Eine Begegnung mit einem ihrer Protagonisten.

Christian Hempel bittet mich freundlich herein, dann brüllt er „Du Arschloch, du kleine Nutte“ und schiebt schnell hinterher: „keine Absicht!“ Christian, ein großgewachsener Mann Mitte 40, versucht, die Gräben zu überbrücken, die sein Tourette-Syndrom unaufhörlich aufreißt. Es zwingt ihn zu Schimpfattacken, die er nicht kontrollieren kann. Ein unaufhörliches Testen, wo der wunde Punkt liegen könnte. Mit einer Mischung aus Anspannung und Neugierde warte ich, welchen Spiegel Tourette mir vorhalten wird. Der Kontakt zu Christian entstand durch ein Radiostück, das Helgard Haug und ich geschrieben haben und aus dem sie nun den Theaterabend „Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn“ entwickelt. Für das Hörspiel luden wir Christian zu einer Fahrt durch Deutschland ein. Wir wollten schauen, wie sich das Land in Christians Fluchwörtern abbildet. Denn das, worauf Tourette es absieht, ist Empörung. Das klappt am besten, wenn es gelebte Werte berührt. Damit ist das Syndrom eine Art Wünschelrute für das, was noch heilig ist. Wo würde sie ausschlagen in unserer abgeklärten Zeit, in der, so könnte man meinen, eigentlich alle Tabus abgeräumt sind? Normalerweise dreht sich Christians Leben um Schadensbegrenzung.
Mit viel Geschick hat er seine Wohnung „tourettesicher“ gemacht. Die Fensterscheiben sind dank Polycarbonat gegen unwillkürliche Tritte geschützt, die zu seinem Syndrom gehören, die Haustür ist durch Bretter verstärkt. Der Rechner, an dem er als Webmaster arbeitet, hat eine Tastatur aus Edelstahl – unzertrümmerbar. Nur gegen die Menschen helfen keine Tüfteleien. Eine Nachbarin wollte vor Gericht erwirken, dass Christian sich nur noch zu festgelegten Zeiten in seinem eigenen Garten aufhält. Die Schimpfereien seien eine Zumutung. Auch eine Mediatorin konnte nicht schlichten. Den Rechtsstreit hat Christian schließlich gewonnen. Doch die unversöhnliche Begegnung wirkt nach – es ist nicht die einzige. In seiner Studentenzeit ging Christian noch auf Partys und bewegte sich in der Innenstadt. Gelegenheiten, um über das Tourette-Syndrom und den Menschen dahinter ins Gespräch zu kommen. Doch der ständige Kampf darum, dabei sein zu können, verlangt viel Energie. Als mir Christian Tee nachschenkt, zischt er: „Du Medienschlampe“. Mein Mikrofon, die Klarheit meiner Rolle, geben mir Gelassenheit. Ich denke an die Nachbarin. Im Hörspiel wirkt auch Phillis mit, Christians zwölfjährige Tochter. Beim ersten gemeinsamen Treffen hockt sie auf der Fensterbank, schaut, ob ihr das Unternehmen geheuer ist. Für die Aufnahmen zieht Christian Karten, auf denen Orte und Situationen notiert sind. Er soll erzählen, wie Tourette reagieren würde. Das gefällt Phillis. Sie spielt mit und kichert darüber, was in „Möbelhaus“ und „Sauna“ wohl passieren würde. Zärtlich neckt Christian sie, mit wem sie gerade „BFF“ sei, best friends forever. Tourette kann dem guten Draht zwischen den beiden nichts anhaben. Sie fährt mit. In einem Bulli geht es unter anderem nach Sylt. Ein Durchbrechen der häuslichen Isolation – eine Chance für Vater und Tochter, sich neu kennenzulernen. Passanten reagieren cooler als gedacht. Der langersehnte Wunsch, wieder einmal Essen zu gehen, mündet in einer positiven Erfahrung. Vielleicht wird mit der Reise, nach viel Resignation und Kummer, ein alter Faden wieder aufgenommen. Auf den Wunsch, eine Bühnenfassung zu erarbeiten, kam Helgard Haug, weil Christians Wortgewalt sie so faszinierte. Das Tourette-Syndrom hat viele Formen. Einige Betroffene vollziehen tanzende Bewegungen, andere bellen oder miauen. Die Domäne von Christian ist die Sprache. Seine Tourette-Wortketten sind schillernd und reich. Nicht das einzige Merkmal, mit dem sich die Krankheit von der zunehmenden Verrohung der Sprache in der Öffentlichkeit abhebt. Die AfD bediene ein regelrechtes „Parlaments- Tourette“, sagt Bijan Kaffenberger, ein junger Politiker, der auch Tourette hat und den Christian auf seiner Reise trifft. „Und die können ja sogar was dafür.“ Während das Hörspiel als offenes Experiment angelegt war, verlangt der Bühnenabend eine strengere Planung. Andererseits, was wäre Theater ohne Risiko? Die Unberechenbarkeit von Tourette heißt umgekehrt: Das sehr performative Syndrom ist immer für eine Überraschung gut. Nachdem Christian bei einem früheren Theaterprojekt von Rimini Protokoll die Teilnahme ausgeschlossen hatte, will er es nun wagen. Die Hörspielreise hat ihm Auftrieb gegeben. Er teilt die Bühne mit Bijan Kaffenberger und mit Benjamin Jürgens, die beide ihr Tourette auf sehr unterschiedliche Weise öffentlich machen. Barbara Morgenstern begleitet den Abend mit Livemusik. Anknüpfen kann der Abend an ein großes Stück Theatergeschichte. Die Uraufführung von Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ fand 1966 in Frankfurt statt. Die Empörung, die Handkes Stück damals auslöste, geschah nicht im luftleeren Raum. Das Publikum setzt sich aus Individuen zusammen, die aus einer bestimmten Lebensrealität heraus in den Theatersaal gelangen, damals wie heute. Zu einer erfolgreichen Beschimpfung gehört, dass sich jemand aus der Reserve locken lässt – aus Gründen, hinter denen immer auch eine Geschichte steht.