All the Sex I’ve Ever Had

Mammalian Diving Reflex / Darren O’Donnell

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All the Sex I’ve Ever Had

Mammalian Diving Reflex / Darren O’Donnell

A group of senior citizens addresses the title of this piece head on. Over the course of ninety minutes, six people aged 65 and up from all over the Frankfurt area reminisce about their experiences with physical love and everything that goes with it over the course of a lifetime. From puppy love to going all the way for the first time, from separations and heartache to affairs, from monotony to the unexpected and to new (re)orientations. In this production by the international Mammalian Diving Reflex collective, which is best known for its social-specific activist performances, the elders take heart and unfold all the autobiographical stories that make each of them unique.

Infos

Duration: 90 Min.
Language: German
Afterwards talkings with the participants
Mousonturm-co-production

Admission to the hall starts 45 min. and ends 10 minutes in advance. Please be on time.
Admission only with face mask! More information on hygiene and safety

Sponsors and Supporters

Inszenierung der Frankfurter Uraufführung: Melika Ramic
Mitarbeit: Solveig Hörter, Almut Mölk, Suse Lichtenberger, Dorle Trachternach
Mit Menschen ab 65 aus Frankfurt und Umgebung

Das Projekt ist Teil des Kulturprogramms von Kanadas Gastlandauftritt bei der Frankfurter Buchmesse 2020. Es wird unterstützt durch das Canada Council for the Arts und die Regierung von Kanada. Gefördert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst im Rahmen der intergenerationalen Vermittlungsinitiative ALL IN – FÜR PUBLIKUM JEDEN ALTERS.

More Information

Moos hat kein Geschlecht

 

Seit acht Jahren ist das Projekt „All the Sex I‘ve Ever Had“ der kanadischen Gruppe Mammalian Diving Reflex mittlerweile auf Tour. In dieser Zeit hat Darren O’Donnell akribisch mehr als hundert ältere Menschen interviewt: und wollte aus jedem einzelnen ihrer Lebensjahre alles wissen, was ihnen im Zusammenhang mit Sex noch in Erinnerung war. Jetzt befragt er für sein Theaterstück im Oktober auch Frankfurterinnen und Frankfurter. Hier zur Einstimmung sein Erfahrungsbericht.

VON DARREN O’DONNELL

Während ich das hier schreibe, erlebe ich in Melbourne gerade eine zweite Welle der Kontaktsperren. Die kurze Zeit zwischen den Quarantänen nutzte ich, um eine unserer Darstellerinnen in der Melbourner Fassung von „All the Sex I‘ve Ever Had“ zu treffen: die 84-jährige Gabriella. Nicht lange nach dem Treffen schrieb ich mich in ihren Tai-Chi-Kurs ein, und wir besprachen nach jeder Stunde beim Kaffee Einfälle für ein Theaterstück, in dem Gabriella dereinst, wenn sie einmal gestorben und als Moosfleck wiederauferstanden sein wird, eine Hauptrolle übernehmen soll. Mit Mund- und Nasenschutz erkundigten wir uns in Blumenläden und Gärtnereien, wie man einen Moosgarten anlegt, in dem Gabriella später einmal von jenseits der Urne aus herumspuken kann. Nach fast einem Jahrhundert als Mensch hält Gabi ein Weiterleben als Moos für die beste aller möglichen Daseinsformen. Denn Moose verfügen über die beneidenswerte Fähigkeit, sich ungeschlechtlich fortzupflanzen. Uns Menschen ist das leider nicht vergönnt. Gabi hat einen Herzfehler und muss täglich Medikamente nehmen. Außerdem ist sie durch Demenzfälle in der Familie erblich vorbelastet. Große Sorgen macht sie sich deswegen nicht, denn sie hat sich mit ihrem Arzt stillschweigend darauf geeinigt, dass sie einfach ihre Medikamente absetzen wird, sobald ihr Verstand allzu sehr versagt. Was dann passiert, ist ebenso sicher wie schmerzlos.

Gabis entspannter Umgang mit ihrem eigenen Tod erinnert mich an meine Mutter. Die würde sich nämlich, schonungslos betrachtet, von einer Brücke werfen, wenn es nicht so viel Mühe kostete, eine zu finden, die auch wirklich hoch genug ist. Einmal fragte meine Mutter, ob ich ihr nicht eine Selbstmordmethode empfehlen könne. Ich drohte ihr, sie mit meinem Lieblingsteddy zu erwürgen, falls sie mir diese Frage noch einmal stellte. Was Mama angeht, war dieses ganze Pandemie-Ding mehr eine Wohltat für Seele und Geist. Sie fühlt sich jetzt in der Einsamkeit des Alters nicht mehr so allein. Seit ihr mein Bruder mehrere anonyme Nutzerkonten eingerichtet hat, folgt sie Trumps widerwärtiger Dummheit auf den sozialen Kanälen wie ein jugendliches Groupie. Sie hat ihre Kenntnisse der amerikanischen Geschichte aufgefrischt und versucht ernsthaft, in den Kommentaren Amerikanerinnen und Amerikaner in Gespräche zu verwickeln, um sie vor dem Abgleiten in den Faschismus zu bewahren. Ich selbst lese keine Schlagzeilen mehr, daher wüsste ich nicht zu sagen, ob sie damit irgendetwas erreicht hat. Ich vermute ja, eher nicht. Aber sie kriegt von mir eine Eins für ehrliches Bemühen.

Der Umgang meines 78-jährigen Vaters mit der Kontaktsperre lässt sich in wenigen Worten beschreiben: Was denn bitte für eine Kontaktsperre? Der einzige Unterschied zwischen vorher und nachher besteht für ihn darin, dass meine Stiefmutter jetzt die Einkäufe mit dem Feuchttuch abwischt. Für die ohnehin schon ziemlich einsamen Alten halten sich diese Einschnitte sehr in Grenzen.

Als Folge langer Recherchen bin ich mittlerweile einigermaßen im Bilde und kann mir ein paar statistisch signifikante Verallgemeinerungen über die Menschheit erlauben. Erstens: Monogamie existiert so gut wie nicht. Aber das wussten wir ja. Zweitens: Wer lange genug lebt, erleidet Höllenqualen. Drittens: Die meisten Menschen verharren im Wesentlichen ihr ganzes Leben lang im Entwicklungsstadium verwirrter Vorpubertärer, was übertragbares Erfahrungswissen in der hohen Kunst von Liebe, Leidenschaft und Sex angeht. Der Preis, den Achtzigjährige für die Schmetterlinge im Bauch bezahlen, ist nicht geringer als bei Vierzehnjährigen. Doch ich habe bei der Arbeit an diesem Projekt in zwanzig Städten und vierzehn Ländern auch noch eine vierte Tendenz festgestellt: Man lernt mit der Zeit immer besser, Liebe, Leidenschaft und Sex ganz bleiben zu lassen. Nur die Sehnsucht danach hört nicht auf.

Schlechte Nachrichten, ich weiß. Wir glaubten ja, dass bei älteren Menschen die Lust abflaut und ihr Interesse an allem, was damit zusammenhängt, einfach so verschwindet. Leider alles Lug und Trug. Tatsächlich verhält es sich wohl eher so, dass einem von Mal zu Mal immer klarer wird, wie sehr man die Nase voll hat von den Qualen, die einem die Liebe mit absoluter Sicherheit beschert, und sich stattdessen einen anderen, fast ebenso aufregenden Zeitvertreib sucht. Eine 73-jährige Frau Lee in Singapur verzichtete auf Liebe und Sex, weil sie stattdessen lieber Zaubern lernen wollte. Zum Beweis zog sie mir einen Tischtennisball aus der Nase.

Und noch eine fünfte Erkenntnis habe ich gewonnen. Wie es scheint, gilt sie ohne Ausnahme für die vielen verschiedenen Menschen und Kulturen, die bisher an dem Projekt beteiligt waren: All das grauenvolle Liebesleid, das 65-Jährige im Verlauf ihrer ungefähr 569.400 Lebensstunden durchgestanden haben, ist unwichtig. Eigentlich muss man sich keine großen Sorgen machen. Es wird schon wieder. Das Leben geht danach einfach weiter. Bis es aufhört, und wenn es einmal so weit ist, muss man sich erst recht keine großen Sorgen mehr machen.

Darin liegt für mich die höchste Weisheit über Liebe und Leidenschaft, die wir von den Alten lernen können. Es ist ihnen einfach alles schnurz- und piep- und hinten- wie vornherum egal. Gar so viel Lüsternheit haben sie nicht mehr zu verschenken. Sie haben einfach vor geraumer Zeit gelernt, sich wegen dem Fummelkram nicht länger aufzureiben. Das ist doch mal echte Weisheit! Weisheit wird heutzutage gern mit Sach- und Fachkunde verwechselt, mit Auskennerei oder dämlichen Praxistipps zur Steigerung der Produktivität. Doch die Weisheit, die ich hier meine, lässt sich eigentlich nur auf dem Leidensweg erwerben. Leidend lernen wir, dass das Leiden immer irgendwann aufhört und immer wiederkommt, um immer wieder aufzuhören. Damit meine ich noch nicht einmal die echten Liebestragödien, sondern einfach nur das miese, nie abreißende Alltagsleid, das jeder von uns ab 65 Jahren Lebenserfahrung von Tag zu Tag mitmacht. So ist das Leben!

Die gute Nachricht: Komödie = Tragödie + Zeit. Vermutlich gilt diese Gleichung nirgendwo so sehr wie auf dem Gebiet des Geschlechtslebens, wo man sie nur noch wenig anpassen müsste: Sextragödie + Zeit = Komödie hoch 2. Unser Liebesleben war vom ersten Tag an nichts als eine himmelsschreiend komische Farce. Genau darum geht es in den Erlebnissen, von denen „All the Sex I‘ve Ever Had“ erzählt: Lieben, Bumsen, Weinen und Lachen. Das war’s auch schon. Begleiten wird uns auf dieser wunderbar witzigen, so tragischen wie erbaulichen Reise ein Rat der alten Weisinnen und Weisen: Menschen, die länger als 2.049.840.000 Sekunden gelebt haben, die Millionen Mal Sex hatten, deren Herzen in Milliarden Scherben zersprangen und von denen viele mit einer Vereinsamung fertig werden müssen, an der kein Virus schuld ist, weil sie sich meist einfach mit fortschreitendem Alter einstellt. Menschen, die gelernt haben, auch das mit allergrößter Unbeschwertheit zu nehmen.

Und so werden diese Alten sich voller Verständnis und mit etwas Humor auch an ein Publikum wenden, dessen Alltag gerade von einem mickrigen und erbärmlichen Virus durcheinandergebracht wird. Denn die Auswirkungen eines Virus’ sind nichts gegen die Auswirkungen der Zeit. Vom Virus erholen sich schließlich die allermeisten.

DEUTSCH VON HERWIG ENGELMANN